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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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eine Straße Eisenstraße hieß und dem
Kind Ursula, Tulla gerufen, Welt genug gewesen sein muß, denn
wenn sie, wie es bei Mutter heißt, »von janz frieher«
erzählt, geht es zwar oft um Badevergnügen am nahen
Ostseestrand oder um Schlittenfahrten in den Wäldern südlich
des Vorortes, doch meistens zwingt sie ihre Zuhörer auf den Hof
des Mietshauses Eisenstraße 19 und von dort aus, am angeketteten
Schäferhund Harras vorbei, in eine Tischlerei, deren
Arbeitsgeräusch von einer Kreis-, einer Bandsäge, der
Fräse, der Hobelmaschine und dem wummernden Gleichrichter bestimmt
wurde. »Als klaine Göre schon hab ech im Knochenleimpott
rumriehren jedurft...« Weshalb dem Kind Tulla, wo es stand, lag,
ging, rannte oder in einer Ecke kauerte, jener, wie erzählt wird,
legendäre Knochenleimgeruch anhing.
Kein Wunder also, daß Mutter, als wir gleich nach dem Krieg in
Schwerin einquartiert wurden, in der Schelfstadt das Tischlerhandwerk
gelernt hat. Als »Umsiedlerin«, wie es im Osten hieß,
bekam sie prompt eine Lehrstelle bei einem Meister zugewiesen, dessen
Bruchbude mit vier Hobelbänken und ständig blubberndem
Leimpott als alteingesessen galt. Von dort aus war es nicht weit zur
Lehmstraße, wo Mutter und ich ein Dach aus Teerpappe überm
Kopf hatten. Doch wenn wir nach dem Unglück nicht in Kolberg an
Land gegangen wären, wenn uns vielmehr das Torpedoboot Löwe
nach Travemünde oder Kiel, also in den Westen gebracht hätte,
wäre Mutter als »Ostflüchtling«, wie es
drüben hieß, bestimmt auch Tischlerlehrling geworden. Ich
sage Zufall, während sie vom ersten Tag an den Ort unserer
Zwangseinweisung als vorbestimmt angesehen hat.
    »Ond wann jenau hat nu dieser Russki, der
Käpten auf dem U-Boot jewesen is, sain Jeburtstag jehabt? Du
waißt doch sonst alles aufs Haar jenau...«
Nein, so wie bei Wilhelm Gustloff - und wie ich es mir aus dem Internet
geholt habe - weiß ich das nicht. Nur das Geburtsjahr konnte ich
rausfingern und sonst noch paar Fakten und Vermutungen, was
Journalisten Hintergrundmaterial nennen.
Alexander Marinesko wurde 1913 geboren, und zwar in der Hafenstadt
Odessa, am Schwarzen Meer gelegen, die einmal prächtig gewesen
sein muß, was in Schwarzweißbildern der Film
»Panzerkreuzer Potemkin« bezeugt. Seine Mutter stammte aus
der Ukraine. Der Vater war Rumäne und hatte seinen Ausweis noch
als Marinescu unterschrieben, bevor er wegen Meuterei zum Tode
verurteilt wurde, doch in letzter Minute fliehen konnte.
Sein Sohn Alexander wuchs im Hafenviertel auf. Und weil in Odessa
Russen, Ukrainer und Rumänen, Griechen und Bulgaren, Türken
und Armenier, Zigeuner und Juden eng beieinanderlebten, sprach er ein
Mischmasch aus vielerlei Sprachen, muß aber innerhalb seiner
Jungenbande verstanden worden sein. Sosehr er sich später
bemühte, Russisch zu sprechen, nie wollte es ihm ganz gelingen,
sein von jiddischen Einschiebseln durchsupptes Ukrainisch von seines
Vaters rumänischen Flüchen zu säubern. Als er schon Maat
auf einem Handelsschiff war, lachte man über sein Kauderwelsch;
doch im Verlauf der Jahre wird vielen das Lachen vergangen sein, so
komisch in späterer Zeit die Befehle des UBootkommandanten
geklungen haben mögen.
Jahre zurückgespult: der siebenjährige Alexander soll vom
Überseekai aus gesehen haben, wie die restlichen Truppen der
»Weißen« und der abgekämpfte Rest der britischen
und französischen Interventionsarmeen fluchtartig Odessa
verließen. Bald darauf erlebte er den Einmarsch der
»Roten«. Säuberungen fanden statt. Dann war der
Bürgerkrieg so gut wie vorbei. Und als einige Jahre später
wieder ausländische Schiffe im Hafenbecken anlegen durften, soll
der Junge nach Münzen, die von schöngekleideten Passagieren
ins Brackwasser geworfen wurden, mit Ausdauer und bald mit Geschick
getaucht haben.
    Das Trio ist nicht komplett. Einer fehlt noch.
Seine Tat hat etwas in Gang gesetzt, das Sogwirkung bewies und nicht
aufzuhalten war. Da er, gewollt wie ungewollt, den einen, der aus
Schwerin kam, zum Blutzeugen der Bewegung und den Jungen aus Odessa zum
Helden der baltischen Rotbannerflotte gemacht hat, ist ihm für
alle Zeit die Anklagebank sicher. Solche und ähnliche
Beschuldigungen las ich, mittlerweile gierig geworden, der immer gleich
firmierenden Homepage ab: »Ein Jude hat geschossen...«
    Weniger eindeutig ist, wie ich inzwischen
weiß, eine Streitschrift betitelt, die der Parteigenosse und
Reichsredner Wolfgang Diewerge im Franz Eher Verlag, München, im
Jahr
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