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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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1936 erscheinen ließ. Allerdings wußte die
Kameradschaft Schwerin, nach des Irrsinns schlüssiger Logik, mehr
zu verkünden, als Diewerge zu wissen vorgab: »Ohne den Juden
wäre es auf der von Minen geräumten Route, Höhe
Stolpmünde, nie zur größten Schiffskatastrophe aller
Zeiten gekommen. Der Jude hat... Der Jude ist schuld...«
    Im Chatroom waren dem teils deutsch, teils englisch
angerührten Gequassel dennoch einige Fakten abzulesen. Wußte
der eine Chatter, daß Diewerge bald nach Kriegsbeginn Intendant
des Reichssenders Danzig gewesen sei, hatte ein anderer Kenntnis von
dessen Tätigkeiten während der Nachkriegszeit: er soll,
verkumpelt mit anderen Obernazis, so mit dem späteren
FDP-Bundestagsabgeordneten Achenbach, die nordrhein-westfälischen
Liberalen unterwandert haben. Auch habe, ergänzte ein Dritter, der
ehemalige NS-Propagandaexperte während der siebziger Jahre eine
geräuscharme Spendenwaschanlage zugunsten der FDP betrieben, und
zwar in Neuwied am Rhein. Schließlich drängten sich im
randvollen Chatroom doch noch Fragen nach dem Täter von Davos,
denen zielsichere Antworten Punkte setzten.
    Vier Jahre älter als Marinesko und vierzehn
Jahre jünger als Gustloff, wurde David Frankfurter 1909 in der
serbischen Stadt Daruvar als Sohn eines Rabbiners geboren. Zu Hause
sprach man Hebräisch und Deutsch, in der Schule lernte David
Serbisch sprechen und schreiben, bekam aber auch den tagtäglichen
Haß auf die Juden zu spüren. Vermutend nur steht hier: Damit
umzugehen, bemühte er sich vergeblich, weil seine Konstitution
keine robuste Gegenwehr erlaubte und ihm geschickte Anpassung an die
Verhältnisse zuwider war.
    Mit Wilhelm Gustloff hatte David Frankfurter nur
soviel gemein: wie jener durch seine Lungenkrankheit behindert war,
litt dieser seit seiner Kindheit an chronischer Knochenmarkeiterung.
Doch wenn Gustloff sein Leiden in Davos bald hatte auskurieren
können und später als gesunder Parteigenosse tüchtig
wurde, konnten dem kranken David keine Ärzte helfen; vergeblich
mußte er fünf Operationen erleiden: ein hoffnungsloser Fall.
    Vielleicht hat er der Krankheit wegen ein
Medizinstudium begonnen; auf familiären Rat hin in Deutschland, wo
schon sein Vater und dessen Vater studiert hatten. Es heißt, weil
fortwährend kränkelnd und deshalb an
Konzentrationsschwäche leidend, sei er beim Physikum wie bei
späteren Examen durchgefallen. Doch im Internet behauptete der
Parteigenosse Diewerge im Gegensatz zum gleichfalls zitierten
Schriftsteller Ludwig, den Diewerge stets »Emil
Ludwig-Cohn« nannte: Der Jude Frankfurter sei nicht nur ein
schwächlicher, sondern ein dem Rabbi-Vater auf der Tasche
liegender, so fauler wie verbummelter Student gewesen, zudem ein
stutzerhaft gekleideter Nichtsnutz und Kettenraucher.
    Dann begann - wie jüngst im Internet gefeiert
- mit dreimal verfluchtem Datum das Jahr der Machtergreifung. Der
Kettenraucher David erlebte in Frankfurt am Main, was ihn und andere
Studenten betraf. Er sah, wie die Bücher jüdischer Autoren
verbrannt wurden.
    Seinen Studienplatz im Labor kennzeichnete
plötzlich ein Davidstern. Körperlich nah schlug ihm Haß
entgegen. Mit anderen wurde er von Studenten, die sich lauthals der
arischen Rasse zuzählten, beschimpft. Damit konnte er nicht
umgehen. Das hielt er nicht aus. Deshalb floh er in die Schweiz und
setzte in Bern, am vermeintlich sicheren Ort, sein Studium fort, um
wiederum bei Prüfungen durchzufallen. Dennoch schrieb er seinen
Eltern heiter bis positiv gestimmte, den Unterhalt zahlenden Vater
beschummelnde Briefe. Als im Jahr drauf seine Mutter starb, unterbrach
er das Studium. Vielleicht um bei Verwandten Halt zu suchen, wagte er
noch einmal eine Reise ins Reich, wo er in Berlin tatenlos sah, wie
sein Onkel, der wie der Vater Rabbiner war, von einem jungen Mann, der
laut »Jude, hepp, hepp!« schrie, am rötlichen Bart
gezerrt wurde.
    Ähnlich steht es in Emil Ludwigs romanhaft
gehaltener Schrift »Der Mord in Davos«, die der
Erfolgsautor 1936 bei Querido in Amsterdam, dem Verlag der Emigranten,
erscheinen ließ. Abermals wußte es die Kameradschaft
Schwerin auf ihrer Website nicht besser, aber anders, indem sie
wiederum den Parteigenossen Diewerge beim Wort nahm, weil dieser den
von Berliner Polizisten verhörten Rabbiner Dr. Salomon Frankfurter
in seinem Bericht als Zeugen zitiert hatte: »Es ist nicht wahr,
daß ein halbwüchsiger Bursche mich am Barte (der
übrigens schwarz und nicht rot ist) gezogen und dabei
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