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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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Angestellten im Jahr siebzehn fürsorglich in die
Schweiz, wo er in Davos sein Leiden auskurieren sollte, woraufhin er in
besonderer Luft so gesund wurde, daß ihm nur mit anderer Todesart
beizukommen war; nach Schwerin, ins niederdeutsche Klima wollte er
vorerst nicht zurück.
Als Gehilfe fand Wilhelm Gustloff Arbeit in einem Observatorium. Kaum
war diese Forschungsstätte in eine eidgenössische Stiftung
umgewandelt, stieg er zum Observatoriumssekretär auf, dem dennoch
Zeit blieb, sich als reisender Vertreter einer Gesellschaft für
Hausratsversicherungen ein Zubrot zu verdienen; so lernte er
nebenberuflich die Kantone der Schweiz kennen. Gleichzeitig war seine
Frau Hedwig fleißig: als Sekretärin half sie, ohne sich
ihrer völkischen Gesinnung wegen überwinden zu müssen,
bei einem Rechtsanwalt namens Moses Silberroth aus.
Bis hierhin ergeben die Fakten das Bild eines bürgerlich
gefestigten Ehepaares, das aber, wie sich zeigen wird, eine dem
schweizerischen Erwerbssinn angepaßte Lebensart nur
vortäuschte; denn anfangs unterschwellig, später offen heraus
- und lange geduldet vom Arbeitgeber - nutzte der
Observatoriumssekretär erfolgreich sein angeborenes
Organisationstalent: er trat in die Partei ein und hat bis Anfang
sechsunddreißig unter den in der Schweiz lebenden Reichsdeutschen
und Österreichern etwa fünftausend Mitglieder angeworben,
landesweit in Ortsgruppen versammelt und auf jemanden vereidigt, den
sich die Vorsehung als Führer ausgedacht hatte.
Zum Landesgruppenleiter jedoch war er von Gregor Strasser ernannt
worden, dem die Organisation der Partei unterstand. Strasser, der dem
linken Flügel angehörte, wurde, nachdem er
zweiunddreißig aus Protest gegen seines Führers Nähe
zur Großindustrie alle Ämter niedergelegt hatte, zwei Jahre
später dem Röhmputsch zugezählt und von den eigenen
Leuten liquidiert; sein Bruder Otto rettete sich ins Ausland. Daraufhin
mußte sich Gustloff ein neues Vorbild suchen.
Als aufgrund einer Anfrage, gestellt im Kleinen Rat von
Graubünden, ein Beamter der Fremdenpolizei von ihm wissen wollte,
wie er inmitten der Eidgenossenschaft sein Amt als Landesgruppenleiter
der NSDAP verstehe, soll er geantwortet haben: »Ich liebe auf der
Welt am meisten meine Frau und meine Mutter. Wenn mein Führer mir
befähle, sie zu töten, würde ich ihm gehorchen.«
Dieses Zitat wurde im Internet bestritten. Solche und weitere
Lügen habe in seinem Machwerk der Jude Emil Ludwig erfunden,
hieß es in dem von der Kameradschaft Schwerin angebotenen
Chatroom. Vielmehr sei weiterhin der Einfluß von Gregor Strasser
auf den Blutzeugen wirksam geblieben. Stets habe Gustloff vor dem
Nationalen das Sozialistische seiner Weltanschauung betont. Bald tobten
Flügelkämpfe zwischen den Chattern. Eine virtuelle Nacht der
langen Messer forderte Opfer.
Dann jedoch wurde allen interessierten Usern ein Datum in Erinnerung
gerufen, das als Ausweis der Vorsehung gelten sollte. Was ich mir als
bloßen Zufall zu erklären versucht hatte, hob den
Funktionär Gustloff in überirdische Zusammenhänge: am
30. Januar 1945 begann, auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der
Geburt des Blutzeugen, das auf ihn getaufte Schiff zu sinken und so
zwölf Jahre nach der Machtergreifung, abermals auf den Tag genau,
ein Zeichen des allgemeinen Untergangs zu setzen.
    Da steht es wie mit Keilschrift in Granit gehauen.
Das verfluchte Datum, mit dem alles begann, sich mordsmäßig
steigerte, zum Höhepunkt kam, zu Ende ging. Auch ich bin, dank
Mutter, auf den Tag des fortlebenden Unglücks datiert worden;
dagegen lebt sie nach einem anderen Kalender und ermächtigt weder
den Zufall noch ähnliche Alleserklärer.
    »Aber nai doch!« ruft sie, die ich nie
besitzergreifend »meine«, sondern immer nur
»Mutter« nenne. »Das Schiff hätt auf sonst wen
jetauft sain kennen ond war trotzdem abjesoffen. Mecht mal bloß
wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai
Dinger direktemang auf ons loszuschicken...«
    So mault sie immer noch, als wäre seitdem
nicht ein Haufen Zeit bachrunter gegangen. Wörter breitgetreten,
Sätze in der Wäschemangel gewalkt. Sie sagt Bulwen zu
Kartoffeln, Glumse zu Quark und Pomuchel, wenn sie Dorsch in
Mostrichsud kocht. Mutters Eltern, August und Erna Pokriefke, kamen aus
der Koschneiderei, wurden Koschnäwjer genannt.
Sie jedoch wuchs in Langfuhr auf. Nicht aus Danzig stammt sie, sondern
aus diesem langgestreckten, immer wieder ins Feld hinein erweiterten
Vorort, dessen
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