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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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geschrien
hat, Jude, hepp, hepp! «
    Es war mir nicht möglich herauszufinden, ob
das zwei Jahre nach der angeblichen Beschimpfung angeordnete
Polizeiverhör unter Zwang seinen Verlauf genommen hatte.
Jedenfalls kehrte David Frankfurter nach Bern zurück und wird aus
mehreren Gründen verzweifelt gewesen sein. Zum einen begann
wiederum das bis dahin erfolglose Studium, zum anderen litt er, ohnehin
körperlich unter Dauerschmerz leidend, unter dem Tod der Mutter.
Überdies wuchs sich seine Berliner Kurzvisite bedrückend aus,
sobald er in in- und ausländischen Zeitungen Berichte über
Konzentrationslager in Oranienburg, Dachau und anderenorts las.
So muß gegen Ende fünfunddreißig der Gedanke an
Selbstmord aufgekommen sein und sich wiederholt haben. Später, als
der Prozeß lief, hieß es in einem von der Verteidigung
bestellten Gutachten: »Frankfurter kam aus inneren seelischen
Gründen persönlicher Natur in die psychologisch unhaltbare
Situation, von der er sich freimachen mußte. Seine Depression
gebar die Selbstmordidee. Der in jedem immanente Selbsterhaltungstrieb
hat aber die Kugel von sich selbst auf ein anderes Opfer
abgelenkt.«
Dazu gab es im Internet keine spitzfindigen Kommentare. Dennoch
beschlich mich mehr und mehr der Verdacht, daß sich hinter der
Deckadresse »www. blutzeuge. de« keine glatzköpfige
Mehrzahl als Kameradschaft Schwerin zusammengerottet hatte, sondern ein
Schlaukopf als Einzelgänger verborgen blieb. Jemand, der wie ich
querläufig nach Duftmarken und ähnlichen Absonderungen der
Geschichte schnüffelte.
    Ein verbummelter Student? Bin ich auch gewesen, als
mir die Germanistik stinklangweilig und die Publizistik am
Otto-Suhr-Institut zu theoretisch wurde.
Anfangs, als ich Schwerin verließ, dann von Ostberlin aus mit der
S-Bahn nach Westberlin wechselte, gab ich mir, wie Mutter beim Abschied
versprochen, noch ziemlich Mühe und büffelte wie ein Streber.
Zählte - kurz vorm Mauerbau - sechzehneinhalb, als ich begann,
Freiheit zu schnuppern. Bei Mutters Schulfreundin Jenny, mit der sie
eine Menge verrückte Sachen erlebt haben will, wohnte ich in
Schmargendorf nahe dem Roseneck. Hatte ein eigenes Zimmer mit
Dachlukenfenster. War eigentlich eine schöne Zeit.Tante Jennys
Mansardenwohnung in der Karlsbader Straße sah wie eine
Puppenstube aus. Auf Tischchen, Konsolen, unter Glasstürzen
standen Porzellanfigürchen. Meistens Tänzerinnen im Tutu und
auf Schuhspitzen stehend. Einige in gewagter Position, alle mit kleinem
Köpfchen auf langem Hals. Als junges Ding war Tante Jenny
Ballerina gewesen und ziemlich berühmt, bis ihr bei einem der
vielen Luftangriffe, die die Reichshauptstadt mehr und mehr
flachlegten, beide Füße verkrüppelt wurden, so
daß sie mir nun einerseits humpelnd, andererseits mit immer noch
graziösen Armbewegungen allerlei Knabberzeug zum Nachmittagstee
servierte. Und gleich den zerbrechlichen Figurinen in ihrer putzigen
Mansarde zeigte ihr kleiner, auf nunmehr dürrem Hals beweglicher
Kopf immerfort ein Lächeln, das vereist zu sein schien. Auch
fröstelte sie häufig, trank viel heiße Zitrone.
Ich wohnte gerne bei ihr. Sie verwöhnte mich. Und wenn sie von
ihrer Schulfreundin sprach - »Meine liebe Tulla hat mir auf
Schleichwegen neuerlich ein Briefchen zukommen lassen...« -, war
ich für Minuten versucht, Mutter, dieses verflucht zähe
Miststück, ein wenig liebzugewinnen; doch dann nervte sie wieder.
Ihre von Schwerin aus in die Karlsbader Straße geschmuggelten
Kassiber enthielten dichtgedrängte, mit Unterstreichungen ins
Bedingungslose gesteigerte Ermahnungen, die mich, mit Mutters Wort,
»piesacken« sollten: »Er muß lernen, lernen!
Dafür, nur dafür hab ich den Jungen in den Westen geschickt,
damit er was aus sich macht...«
In ihrer mir im Ohr nistenden Wortwörtlichkeit hieß das:
»Ech leb nur noch dafier, daß main Sohn aines Tages mecht
Zeugnis ablegen.« Und als ihrer Freundin Sprachrohr ermahnte mich
Tante Jenny mit sanfter, doch immer den Punkt treffender Stimme. Mir
blieb nichts übrig, als fleißig zu büffeln.
Ging damals mit einer Horde anderer Republikflüchtlinge meines
Alters auf eine Oberschule. Mußte in Sachen Rechtsstaat und
Demokratie eine Menge nachholen. Zu Englisch kam Französisch,
dafür gab's kein Russisch mehr. Auch wie der Kapitalismus, dank
gesteuerter Arbeitslosigkeit, funktioniert, begann ich zu kapieren. War
zwar kein glänzender Schüler, schaffte aber, was Mutter mir
abverlangt hatte, das Abitur.
Auch sonst war ich
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