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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Autoren: Bernard Minier
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Prolog
     
    Im Grab
    Ein einziger stummer Schrei.
    Ein Wehklagen.
    Innerlich schrie sie vor Verzweiflung, brüllte ihre Wut, ihren Schmerz, ihre Einsamkeit heraus … alles, was ihr im Lauf der Monate immer mehr von ihrer Menschlichkeit geraubt hatte.
    Sie flehte auch.
    Erbarmen, Erbarmen, Erbarmen, Erbarmen … Lasst mich hier raus, ich flehe euch an …
    Innerlich schrie und flehte und heulte sie. Aber nur innerlich: In Wirklichkeit drang kein Laut aus ihrer Kehle. Eines Morgens war sie praktisch stumm erwacht. Stumm … Wo sie doch immer so gern gesprochen hatte, die Wörter ihr doch regelrecht zugeflogen waren, die Wörter und das Lachen …
    In der Dunkelheit setzte sie sich anders hin, um ihre angespannten Muskeln zu entlasten. Sie saß auf dem Boden aus gestampfter Erde und lehnte an einer Steinmauer. Manchmal legte sie sich auch flach hin. Oder sie kroch in eine Ecke zu ihrer schäbigen Matratze. Die meiste Zeit schlief sie, mit angezogenen Beinen. Wenn sie aufstand, streckte sie sich oder ging ein bisschen – vier Schritte auf und ab, nicht mehr, denn ihr Kerker maß zwei auf zwei Meter. Es war angenehm warm; deshalb, aber auch wegen der Geräusche – Brummen, Zischen, Rasseln - wusste sie längst, dass hinter der Tür ein Heizungsraum liegen musste. Sie trug keinerlei Kleidung, war nackt wie ein Neugeborenes. Seit Monaten, seit Jahren vielleicht. Ihre Notdurft verrichtete sie in einen Eimer, und zweimal täglich erhielt sie eine Mahlzeit – außer wenn er verreiste. Da konnte es vorkommen, dass sie mehrere Tage ohne Essen und Trinken auskommen musste, und Hunger und Durst und Todesangst setzten ihr dann zu. Die Tür hatte im unteren Bereich eine Essklappe und in der Mitte einen Spion, durch den er sie beobachtete. Selbst wenn diese beiden Öffnungen geschlossen waren, fielen durch schmale Spalte zwei dünne Lichtstreifen ins Innere, die die Dunkelheit ihres Verlieses etwas weniger undurchdringlich machten. Ihre Augen hatten sich längst an dieses Halbdunkel gewöhnt, sie erkannten Einzelheiten auf dem Boden und an den Wänden, die außer ihr niemand hätte sehen können.
    Anfangs hatte sie ihr Gefängnis erkundet, gespannt auf jedes Geräusch gelauert. Sie hatte nach einer Möglichkeit zur Flucht gesucht, nach der kleinsten Schwachstelle in seinem System, der kleinsten Nachlässigkeit. Irgendwann hatte sie damit aufgehört. Es gab keine Schwachstelle, es gab keine Hoffnung. Sie wusste nicht mehr, wie viele Wochen, wie viele Monate seit ihrer Entführung vergangen waren. Seit ihrem Leben davor. Ungefähr einmal pro Woche befahl er ihr, den Arm durch die Essklappe zu strecken, und gab ihr eine Spritze. Es tat weh, weil er ungeschickt und das Mittel dickflüssig war. Gleich darauf verlor sie das Bewusstsein, und wenn sie zu sich kam, saß sie oben im Esszimmer, in dem schweren Sessel mit der hohen Lehne, die Beine und den Oberkörper an den Sitz gefesselt. Gewaschen, parfümiert und angezogen … Sogar ihr Haar duftete nach Shampoo, selbst ihre normalerweise belegte Zunge und ihr Atem, der sonst bestimmt ekelerregend stank, roch angenehm frisch nach Zahnpasta und Menthol. Ein helles Feuer knisterte im Kamin, auf dem Tisch brannten Kerzen und spiegelten sich in dem dunklen Holz wie Sterne in einem nächtlichen See, und ein köstlicher Duft stieg von den Tellern auf. Immer erklang aus der Stereoanlage klassische Musik. Sobald sie diese Musik hörte, sobald sie das Funkeln der Flammen sah, die saubere Kleidung auf ihrer Haut spürte, begann sie zu speicheln wie ein Pawlowscher Hund. Zumal er sie immer 24 Stunden lang fasten ließ, bevor er sie betäubte und aus ihrem Kerker holte.
    Die Schmerzen in ihrem Unterleib verrieten ihr indessen, dass er sich während ihres Schlafs an ihr vergangen hatte. Anfangs hatte dieser Gedanke sie entsetzt, und ihre ersten richtigen Mahlzeiten hatte sie in den Eimer erbrochen, als sie im Keller erwachte. Mittlerweile konnte ihr das nichts mehr anhaben. Manchmal sagte er nichts, dann wieder hielt er endlose Monologe, aber sie hörte ihm nur selten zu: Ihr Gehirn war es nicht mehr gewohnt, einem Gespräch zu folgen. Wie Leitmotive kehrten aber die Wörter Musik, Symphonie, Orchester in seinen Reden wieder – und ebenso ein Name: Mahler.
     
    Wie lange schon war sie eingesperrt? In ihrem Grab gab es weder Tag noch Nacht. Denn das war es: ein Grab. Aus dem sie nicht mehr lebend herauskommen würde, das wusste sie in ihrem Innersten. Seit langem hatte sie jede Hoffnung
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