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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen
Autoren: Reginald Hill
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1
    An den Wassern zu Babel
    D er Krieg war seit drei Wochen zu Ende. Irgendwann würde mit dem Wiederaufbau begonnen werden, noch aber lagen die Ruinen der Fabrik genauso da wie vierundzwanzig Stunden nach dem Raketeneinschlag. Die Überlebenden waren längst in Krankenhäuser eingeliefert, die Toten, die man hatte bergen können, weggeschafft. Der Gestank jener, die nicht zu bergen waren, wurde schnell unerträglich, auch wenn er nicht lange anhielt, denn die Hitze des nahenden Sommers beschleunigte die Verwesung, und die Reinigungskräfte der Natur – Fliegen und kleine Nagetiere – machten sich an ihre Arbeit.
    Der Staub legte sich, Sonne und Wind glätteten die rauen Zacken des geborstenen Betons, bis er kaum noch von der festgebackenen Erde der Umgebung zu unterscheiden war, so dass es einem Reisenden in diesem alten Land nicht zu verdenken war, wenn er glaubte, die Trümmer seien so alt wie jene der großen Stadt Babylon, die nur wenige Kilometer entfernt lag.
    Schließlich, als der Geruch auf ein erträgliches Maß nachgelassen hatte und kaum noch räudige Hunde durch die Ruinen streunten, wagten es einige kühne, ganz in der Nähe lebende Geister, erste Streifzüge zu unternehmen. Sie, die neuen Aasgeier, trafen auf einen so hohen Grad an Verwüstung, dass selbst die technisch versiertesten nicht mehr zu sagen vermochten, welche Funktion die zerstörten Maschinen in der Fabrik einst gehabt hatten. Sie holten sich, was vielleicht zu verkaufen oder zu tauschen oder einem häuslichen Zweck zuzuführen war, und machten sich wieder davon.
    Aber nicht alle. Khalid Kassem, dreizehn Jahre alt, sich selbst aber zu den Männern zählend und auch mit deren Abenteuerlust und Ehrgeiz ausgestattet, blieb zurück, nachdem sein Vater und seine Brüder abgezogen waren. Er war für sein Alter klein und von schwächlicher Statur, zwei Faktoren, die seinem Bestreben, ernst genommen zu werden, meist zuwiderliefen. Jetzt allerdings schienen sie ihm zugute zu kommen. Er hatte in einer eingestürzten Wand einen Spalt bemerkt, durch den er vielleicht hineinschlüpfen konnte. Zuvor, bei der Plünderung eines zerstörten Bürogebäudes, war er auf eine kleine Taschenlampe gestoßen, deren Birne wie durch ein Wunder nicht zerbrochen war und deren Batterie noch genügend Saft für einen fahlen Lichtstrahl hatte. Statt mit seinem Fund zu protzen, hatte er ihn vor den anderen verborgen, und als er nun den Spalt entdeckte und hineinleuchtete und dabei eine Kammer zum Vorschein kam, fühlte er sich in seiner Unternehmung auf göttliche Weise bestärkt.
    Es war ein schmaler Spalt, selbst für jemanden von seiner Statur, aber schließlich hatte er sich hindurchgezwängt und fand sich in einem Raum wieder, der wie ein unterirdisches Lager aussah. Wie überall waren Bombenschäden zu erkennen, die Decke war an mehreren Stellen eingebrochen, nachdem die darüberliegenden Stockwerke in sich zusammengesackt waren. Im Raum selbst allerdings schien keine Detonation stattgefunden zu haben. Inmitten des Gerölls lagen Metallkisten, manche unbeschädigt, ein oder zwei waren aufgebrochen und gaben den Blick frei auf ein leichtes, würfelförmiges Schaumstoff-Füllmaterial. An den Stellen, an denen es aufgerissen war, fiel Khalids schwacher Lampenstrahl auf matt schimmernde Maschinen. Er riss den Schaumstoff weg und entdeckte, dass die Maschine nochmals in einer eng anliegenden durchsichtigen Plastikfolie verpackt war. Während seines kürzlichen Besuchs bei Verwandten in Bagdad hatte er einen Kühlschrank mit Lebensmitteln gesehen, die genauso verpackt gewesen waren. Man hatte ihm erklärt, dass alle Luft herausgesaugt wurde und die Lebensmittel darin frisch blieben, solange man die Verpackung nicht öffnete. Diese Maschinen, dachte er sich, wurden ebenfalls frisch gehalten. Das überraschte ihn nicht. Metall verwitterte, wie er wusste, und seiner begrenzten Erfahrung nach waren Maschinen noch schwieriger in Schuss zu halten als Haustiere.
    Leider würde ihm seine Entdeckung nichts nützen. Auch wenn es möglich gewesen wäre, eine dieser Maschinen zu bergen, was hätten er und seine Familie damit anfangen sollen?
    Er drehte sich um, sein schwacher Lichtstrahl huschte über eine Kiste, die kleiner war als die übrigen. Ein langer Metallzylinder war über sie gefallen und hatte sie, wie ein Messer, das in eine Melone schnitt, der Länge nach aufgespalten. Die Form des Inhalts war es, die sein Interesse weckte. Halb verdeckt vom Zylinder, der noch auf
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