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Inferno

Inferno

Titel: Inferno
Autoren: Dan Brown
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PROLOG
    Ich bin der Schatten.
    Ich fliehe durch die trauernde Stadt.
    Durch das ewige Leid hindurch ergreife ich die Flucht.
    Ich haste entlang am Ufer des Flusses Arno, atemlos … wende mich nach links in die Via di Castellani, suche meinen Weg nach Norden, drücke mich in die Schatten der Uffizien.
    Und sie jagen mich immer weiter.
    Ihre Schritte werden lauter, während sie mich mit unerbittlicher Entschlossenheit verfolgen.
    Vier Jahre stellen sie mir schon nach. Ihre Beharrlichkeit hat mich in den Untergrund getrieben … mich gezwungen, im Fegefeuer zu leben … unter der Erde zu arbeiten wie ein chthonisches Monster.
    Ich bin der Schatten.
    Hier über der Erde hebe ich den Blick nach Norden, doch ich finde keinen direkten Weg zur Erlösung … Die Berge des Apennin halten das erste Licht der Morgendämmerung zurück.
    Ich renne hinter dem Palazzo vorbei mit seinem krenelierten Turm und der Stundenuhr … schleiche hindurch zwischen den Verkäufern auf der Piazza di San Firenze mit ihren heiseren Stimmen und ihrem Geruch nach lampredotto und gegrillten Oliven. Vor dem Bargello biege ich ab nach Westen, nähere mich der Badia und lande vor dem eisernen Tor am Fuß der Treppen.
    Jetzt ist kein Zögern mehr erlaubt.
    Ich drehe den Knauf und betrete die Passage, von der es kein Zurück mehr für mich gibt. Ich zwinge meine bleiernen Beine die schmale, gewundene Treppe hinauf mit ihren ausgetretenen, abgewetzten Stufen aus narbigem Marmor.
    Die Stimmen hallen von unten herauf. Beschwörend.
    Sie sind hinter mir, unerbittlich, schließen auf.
    Sie begreifen nicht, was kommen wird … ebenso wenig wie das, was ich für sie getan habe!
    Undankbare Welt!
    Während ich emporsteige, überkommen mich die Visionen in schneller Folge … sündige Leiber, die sich in feurigem Regen winden, verfressene Seelen, die in Exkrementen treiben, verräterische Schurken, erstarrt in Satans eisigem Griff.
    Ich ersteige die letzten Stufen und erreiche das Ende, stolpere hinaus in die feuchte Morgenluft, dem Tode nah. Ich renne zu der mannshohen Mauer, spähe durch die Scharten. Tief unter mir liegt die gesegnete Stadt, in der ich Zuflucht suche vor jenen, die mich ins Exil getrieben haben.
    Die Stimmen rufen laut; sie sind jetzt dicht hinter mir. »Was du getan hast, ist Wahnsinn!«
    Wahnsinn bringt Wahnsinn hervor.
    »Um Gottes willen!«, rufen sie. »Sag uns, wo du es versteckt hast!«
    Um unseres Gottes willen werde ich genau das nicht tun.
    Ich stehe jetzt, in die Enge getrieben, mit dem Rücken zum kalten Stein. Sie starren mir tief in die klaren grünen Augen, und ihre Mienen verdunkeln sich, als sie mir nicht länger schmeicheln, sondern unverhüllt drohen. »Du weißt, dass wir unsere Methoden haben. Wir können dich zwingen, uns zu verraten, wo es ist!«
    Aus genau diesem Grund bin ich den halben Weg zum Himmel hinaufgestiegen.
    Unvermittelt drehe ich mich um und ziehe mich am Sims der hohen Mauer hinauf. Zuerst auf die Knie, dann stehe ich … unsicher wankend vor dem Abgrund. Führe mich, o Vergil, durch die Leere.
    Ungläubig springen sie vor, wollen mich an den Füßen packen und fürchten zugleich, sie könnten mir das Gleichgewicht rauben und mich hinunterstoßen. Jetzt flehen sie in stiller Verzweiflung, doch ich habe ihnen den Rücken zugewandt. Ich weiß, was ich tun muss.
    Unter mir, in schwindelerregender Tiefe, erstrahlt die Landschaft aus rot geziegelten Dächern wie ein feuriges Meer … erhellt das Land, das einst Giganten durchstreiften … Giotto, Donatello, Brunelleschi, Michelangelo, Botticelli.
    Ich trete ganz langsam vor bis zur Kante.
    »Komm runter!«, rufen sie mir zu. »Es ist noch nicht zu spät!«
    Oh, ihr starrsinnigen Ignoranten. Seht ihr denn nicht die Zukunft? Begreift ihr denn nicht die Brillanz meiner Schöpfung? Die schiere Notwendigkeit?
    Ich bin mehr als bereit, dieses größte aller Opfer zu bringen … Und mit ihm werde ich eure letzte Hoffnung zerstören, das zu finden, was ihr sucht.
    Ihr werdet es niemals rechtzeitig entdecken.
    Dutzende von Metern unter mir lockt der gepflasterte Platz wie eine stille Oase. Wie sehr es mich nach mehr Zeit dürstet … Doch Zeit ist die einzige Ware, die zu erkaufen selbst meine üppigen Reichtümer nicht genügen.
    In diesen letzten Sekunden sehe ich hinunter auf die Piazza und halte verblüfft inne.
    Ich sehe dein Gesicht.
    Du starrst aus den Schatten zu mir herauf. Deine Augen sind voller Trauer, und doch verspüre ich Ehrfurcht in ihnen
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