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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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gesehen. Es wäre so oder so nicht von Dauer gewesen. Alles hat ein Ende, und das Schöne erst recht.
    Mein täglicher Spaziergang fand nunmehr auf der riesigen Dachterrasse des Hauptturms statt. Nach dem, was mir zugestoßen war, hielten sie das für ratsam. Die anderen spielten unten, in den Höfen und Gärten. Ich stand oben auf dem Dach. Das war einerseits ein Vorteil. Andererseits war ich den Hubschraubern stärker ausgeliefert. Immer die gleiche alte Zwickmühle: Skylla oder Charybdis, ich stand genau dazwischen.
    Jeden Tag musste ich eine halbe Stunde lang meine Runden drehen, dabei spähte ich mit eingezogenem Kopf und dunkler Brille auf der Nase nach den schwarzen Hornissen, die in der Ferne flogen. Die Erzieherin leierte ihr Sprüchlein herunter: Tief einatmen! Die frische Luft wird dir guttun! Mit ihrer frischen Luft ging sie mir gehörig auf den Wecker. Ich fühlte mich nur in beengten, stickigen Räumen wohl, mit leicht ranzig riechender Luft, so wie die Luft, die ich unter meinem Bett einatmete, in meine verschwitzten Laken gehüllt. Das erinnerte mich an mein früheres Leben, an mein verlorenes Glück. Aber wie sollte ich ihr das erklären? Sie hätte es nicht verstanden. Das war nicht schwer zu erraten, wenn man ihre vollen rosigen Wangen sah und diesen dämlichen Gesichtsausdruck.
    »Tief einatmen, mach schon, atme tief ein!«
    Halt’s Maul, sonst schmeiß ich dich vom Dach.
    »Atme die frische Luft ein, das tut unglaublich gut!«
    Ich lächelte die blöde Kuh bloß an, um den Schein zu wahren. In Gedanken stieß ich sie über die Brüstung, nur ein kleiner Stoß, damit sie mal so richtig Luft tanken konnte.
    »Und jetzt wieder in tiefen Zügen atmen! Wir pumpen uns mit Sauerstoff voll.«
    Ich tat so, als ob – das kostet nicht viel und ist am Ende das Einfachste. Wie sie breitete ich die Arme aus und blähte mich mit einem seligen Grinsen auf. Tatsächlich hielt ich auf dem Dach fast die ganze Zeit die Luft an.
    Im Januar ’ 98 , etwas mehr als zwei Jahre nach meiner Ankunft, wurde ich in den Schulunterricht des Zentralheims aufgenommen. Aufgrund meiner erwiesenen Sozialisierungsschwierigkeiten kam ich in den Genuss von eigens arrangierten Privatstunden, die mir abwechselnd von einem Lehrer und einer Lehrerin erteilt wurden. Ich weiß noch, dass beide leichenblass waren, recht hässlich, er vor allem – in manchen Fällen kann die Chirurgie nichts ausrichten. Sie waren weder freundlich noch feindselig, aber sie verloren nie die Geduld und sprachen in einem sanften, gleichmäßigen Ton mit mir, wie mit einem ganz zarten oder völlig verhaltensgestörten Kind, das man nur mit Samthandschuhen anfassen darf. Ich mochte sie zwar nicht, aber sie störten mich auch nicht weiter, und das war für unsere Zusammenarbeit sehr förderlich.
    Sie haben bald festgestellt, dass ich eine Ausnahmeerscheinung war. Das sind nicht meine Worte, so steht es im Gutachten, das sie bereits Anfang März für die Mitglieder der Kommission angefertigt haben: Hat binnen eines Monats lesen gelernt. Phänomenales Gedächtnis und bemerkenswerte Leistungen beim Kopfrechnen. Die Handschrift lässt noch zu wünschen übrig, bessert sich jedoch kontinuierlich.
    Ich musste dann einen Haufen Einstufungstests absolvieren. Das fiel mir leicht. Den Ergebnissen nach war ich hochbegabt. Sie wollten es nicht glauben. Sie haben die Tests alle wiederholt, und zwar mehrmals, um jeden Irrtum auszuschließen. Und so wurde zweifelsfrei bestätigt, dass ich ein Sonderfall war, was umso mehr überraschte, als ich aufgrund meines Vorlebens eine geistig Zurückgebliebene hätte sein müssen.
    Die Kommissionsmitglieder waren überaus verstimmt: Jetzt hatten sie ein echtes Wunderwesen am Hals. Hochbegabt, asozial und polytraumatisiert. Und da trat Monsieur Kauffmann auf den Plan. Er hat mein Leben von Grund auf verändert.

Monsieur Kauffmann
    Sie haben bestimmt von ihm gehört. Er hat Schlagzeilen gemacht, als die Affäre losbrach. Die überregionalen Nachrichten, die Radiosender, das Netz … der ganze Dreck. Am Ende konnte man ihm nichts nachweisen, aber da war der Schaden schon angerichtet. Der Schaden ist immer das, was bleibt, ist Ihnen das schon aufgefallen? Selbst wenn es sich um falsche Anschuldigungen handelt, behält man sie leichter im Gedächtnis als alles andere. Das widert mich an.
    Monsieur Kauffmann war längst bekannt, als sein Name Gegenstand eines Skandals wurde – für Gutes bekannt, meine ich, als Therapeut, sein Spezialgebiet
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