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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Autoren: Ralf Isau
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E s gab Tage, an denen graute es Leo Leonidas davor aufzuwachen. Dies war so ein Tag. Schon als ihm das Reich der Träume entglitt, hatte er ein komisches Gefühl. Am liebsten wäre er gleich wieder eingeschlafen.
    Irgendetwas lag neben ihm im Bett. Es war kalt, ungefähr so groß wie eine Bulldogge und scharfkantig. Vielleicht Krallen?, überlegte er. Konnte er nicht einfach aufwachen wie ein normaler Fünfzehnjähriger, mit zerstrubbeltem Haar, Mundgeruch und schlechter Laune? Stattdessen ständig diese Überraschungen – Mitbringsel eines Schlafwandlers.
    Inzwischen passierte das fast wöchentlich und von Mal zu Mal wurden die Souvenirs ausgefallener. Oft verwirrten, manchmal ärgerten sie ihn und immer öfter fürchtete er sich davor. So wie an diesem Morgen, zwei Tage vor dem Ende der Sommerferien. Vorsichtig öffnete er die Augen.
    Neben ihm lag ein Wetterhahn.
    Leo blieb ein paar Atemzüge lang stocksteif liegen. Er musste sich zunächst darüber klar werden, ob er wirklich schon wach war. Sollte er noch träumen, könnte ihn der Vogel attackieren. Sehr behutsam rückte er ein Stück weiter zur Bettkante und hob die Decke an, um das Biest genauer zu beäugen. Es bestand aus grün angelaufenem Kupferblech und war ziemlich windschnittig.
Aus seinem Rücken ragte ein Spieß, an dessen Spitze eine stachlige Kugel stak. Früher hatten Ritter mit solchen Morgensternen ihre Feinde erschlagen. Kein Wunder, dass ihn das Ding gekratzt hatte.
    Er kannte den Blechgockel. Leos Vater Emanouel hatte die Figur erst beim Abendessen im Scherz erwähnt. »Jetzt mach dir keine Gedanken über Mamas Handy«, spielte er den Umstand herunter, dass sich Selbiges, nachdem es tagelang vermisst worden war, in der Gefriertruhe angefunden hatte. »Solange du nicht aufs Dach der Kreuzkirche raufkletterst und den Hahn runterholst, ist alles im grünen Bereich. Obwohl …« Er rieb sich nachdenklich das Kinn.
    »Hab ich das Telefon wirklich in die Pute gesteckt, Mama?« Leos Blick war zur Mutter gewandert, einer blauäugigen Hanseatin mit blonder Kurzhaarfrisur und wetterfestem Optimismus. Ihr bevorstehender vierzigster Geburtstag war das einzige emotionale Tiefdruckgebiet, das ihre Laune einzutrüben vermochte.
    »Also, wir waren es nicht«, hatte sie vergnügt gesagt. Severina neigte dazu, in jeder noch so bizarren Aktion ihres Sohnes einen Ausdruck von überragender Intelligenz zu sehen.
    Leo hatte einen Mundwinkel hochgezogen, um wenigstens so zu tun, als fände er die Situation komisch. Ihm war überhaupt nicht zum Lachen gewesen. Die Vorboten von Geisteskrankheiten werden oft nicht ernst genommen, behauptete das Internet. Beim Googeln zum Thema »gespaltene Persönlichkeit« hatte er beängstigende Dinge erfahren. Vielleicht war er schizophren und brauchte dringend ärztliche Hilfe. Seine Eltern spielten die Sache ständig herunter.
    »Du bist in der Pubertät. Da stellt sich der Körper um«, fügte Severina hinzu, als wäre damit alles erklärt. Sie kannte sich mit Naturvorgängen aus. Als hyperaktives Mitglied des World Wildlife
Fund telefonierte sie fast ununterbrochen für den Schutz bedrohter oder für die Anerkennung unterprivilegierter Arten. Erst kürzlich war sie als »Stimme des Wattwurms« mit einem Umweltpreis geehrt worden.
    »Nicht dass der Wetterhahn sich neben dem Gartenteich schlecht machen würde«, sinnierte derweil Emanouel. Leos Vater war gebürtiger Grieche, ein quirliger, kleiner Mann, der es mit Im- und Exportgeschäften zu einem Magengeschwür und ansehnlichem Wohlstand gebracht hatte. Sein Steckenpferd war die dekorative Verunstaltung des Familienanwesens an der Hamburger Elbchaussee.
    Jetzt, ungefähr zwölf Stunden später, hatte Leo es also wieder getan. Er war schlafgewandelt und hatte dabei etwas völlig Unsinniges angestellt. Wie sollte er das seinem Vater beibringen? Papa, ich habe dir den Kupfergockel vom Kirchendach geholt. Stell ihn doch im Garten neben die Gipsfigur vom Diskuswerfer. Ob er den Vorschlag begrüßen würde?
    In seiner Karriere als Schlafwandler war Leo schon in mancherlei aberwitzige Situation geraten. Meistens impfte ein fixer Gedanke oder wie am Abend zuvor eine dahingesagte Belanglosigkeit seine Träume. Die waren ohnehin recht farbenfroh, weil er schon seit jeher eine rege Fantasie besaß. Am Morgen nach einer lebhaft durchträumten Nacht erlebte er immer häufiger unliebsame Überraschungen, für die er den Begriff »Traummüll« geprägt hatte. Der Wetterhahn in seinem Bett
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