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Im Licht der roten Erde

Im Licht der roten Erde

Titel: Im Licht der roten Erde
Autoren: Di Morrissey
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Der Mann war weder alt noch jung. Er war in einem Alter, das Weisheit kennt, Schmerz, und in dem man dennoch nach vorn blickt, mit strahlenden Augen und hoffnungsvollem Herzen.
     
    Er war schlank und straff wie kräftiger, gespannter Zwirn, die Muskeln und Sehnen seines Körpers präzise definiert wie auf einem anatomischen Schaubild. Die gräuliche Erdfarbe auf der glänzenden dunklen Haut war zu einer rissigen Kruste getrocknet. Er saß im rostroten Staub, die schwarzen Augen mit der traditionellen Farbe für Zeremonien umringt, und blickte in die Ferne … weiter noch, ins Traumzeitland seiner Ahnen.
    Das Traumzeitland – spirit land  – war erschaffen worden von den wandjina, Wolken- und Regengeistern, die sich in menschlicher Gestalt mit einem Kranz aus Blitzen oder Wolken um den Kopf zeigten. Sie hatten riesige wachsame Augen, aber keinen Mund. Die wandjina zogen durch dieses Land und prägten die topographischen Eigenschaften der Landschaft – die Berge und Höhen, die Schluchten und heiligen, energiespeichernden wunggud -Gewässer –, bis sie in die Höhlen gelangten, wo sie ihre Bilder auf die Wände malten und wieder im Erdboden versanken.
    Diese Wesen jenseits der Zeiten waren dem Songmaster vertraut. Ihr Wissen war geborgen in den Geschichten, die über unzählige Generationen hinweg überliefert wurden, in den Traumliedern seiner Leute und ihres Landes.
    Er streckte die Beine aus, hob sein didgeridoo auf und setzte das aus Bienenwachs geknetete Mundstück an die Lippen; das Ende des langen Holzrohrs blieb am Boden. Die Natur war Schöpferin dieses Instruments, das aus dem Erdreich kam, dem Land seiner Ahnen. Seine Form, seine Dicke, das Holz, von Termiten zerlöchert, verliehen ihm Leben und eine eigene Stimme.
    Er blähte die Wangen und ließ seinen Atem kraftvoll durch das Eukalyptusrohr strömen. Die Luft entwich neben seinen Zehen und mit ihr ein nachhallender Ton, der im Boden vibrierte, zurückkehrte in die Natur und tief ins Herz der Erde, ins Innerste des Traumzeitlandes, drang.
    Er sang zu den wandjina, den mächtigen Geistern, die über dieses Land wachten, die jene bestraften, welche die Gesetze missachteten, die die Kindgeister beaufsichtigten, welche in den wunggud -Gewässern auf ihre Empfängnis warteten, die Regen brachten und die Weisheit der Ältesten lenkten.
    Und so sang er … von den Felsen und Bäumen und Pflanzen und Tieren. Von den Wesen, die all diese Dinge geschaffen hatten, und von seinem Volk, damals und jetzt.
    »… und es wird ein Kind kommen, welches die Menschen versöhnt und eins werden lässt.«

[home]
    Der Anfang …
    R osige Dämmerung senkte sich auf Los Angeles herab. Der Verkehr auf dem Beverly Boulevard wurde zunehmend dichter. Doktor Hal Silverstein stand an seinem Bürofenster im zwölften Stock und blickte über die Gebäude von Beverly Hills hinweg in einen Himmel, der von roten und goldenen Streifen durchzogen war. Es amüsierte ihn, dass diese Stadt ihre spektakulären Sonnenuntergänge der Smogschicht zu verdanken hatte, die zu der elenden Luftqualität L.A.s beitrug. Er blickte auf die Blechschlange hinab, die sich mit leuchtenden Rücklichtern durch die Vororte wand, das letzte Licht des Tages, gespiegelt von glänzendem Lack.
     
    »Haben Sie irgendeine Idee, worum es sich handeln könnte?« Die Stimme der Frau klang gereizt, mürrisch.
    Der Psychiater wandte sich vom Fenster ab und blickte seine Patientin an. »Nein. Das habe ich nicht, um ehrlich zu sein.«
    »Man kann doch mit Sicherheit noch einen anderen Test machen, ein weiteres Blutbild, irgendetwas …?«
    »Rowena, wir haben jeden der Medizinwissenschaft bekannten Test gemacht, und alles, was uns die Ärzte sagen können, ist, dass es sich möglicherweise um eine Art Virus handelt, den Sie sich in Australien eingefangen haben …«
    Der Frau traten Tränen in die Augen. »Aber es bringt mich um! Mein Gott, da wird man doch was machen können …«
    Der Psychiater nestelte an seiner Gucci-Krawatte, dann nahm er seiner Patientin gegenüber Platz. Er machte sich Sorgen um ihre psychische Stabilität, doch was ihn wirklich schockierte, war die rapide Verschlechterung ihres körperlichen Zustands. Selbst in einer Stadt, die Magerkeit zum Ideal erhoben hatte, wirkte sie dürr wie ein Stöckchen, wenngleich die Ärzte Magersucht ausschlossen. Durch den unerklärlichen Gewichtsverlust zeichneten sich ihre Knochen scharf unter der Haut ab und ließen sie transparent erscheinen wie
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