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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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nichts. Sobald sie mich erfolgreich genötigt hatten, drei oder vier Löffel voll hinunterzuschlucken, setzten sie mir zum Schluss eine vitaminhaltige Glukoseinfusion und waren zufrieden, bis zum nächsten Mal.
    Irgendwann habe ich nachgegeben. Ich konnte nicht mehr. Wenn sie mir den Löffel entgegenhielten, öffnete ich unwillkürlich den Mund, kaute, schluckte. Keine Spreizer mehr, keine Gurte, keine fremden Hände, die mir den Kopf hielten, das Kinn stützten. Bei allem Ekel war das doch eine Erleichterung.
    Ich wurde wieder kräftiger, nahm an Gewicht zu. Ich erholte mich. Als ich in der Lage war, ohne Stütze aufrecht zu sitzen, begannen sie mit der Reha. Ich konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr gehen und auch sonst nichts mehr. Sie haben mir alles wieder beigebracht.
    Ich weiß noch, die Logopädin hatte Mundgeruch, einen verfaulten Kloß im Hals. Das war unserer Beziehung zunächst abträglich. Wenn sie den Mund aufmachte, trafen mich die üblen Ausdünstungen mitten ins Gesicht, und ich musste die Zähne zusammenbeißen, um den Brechreiz zu unterdrücken. Das fasste sie als Sturheit auf und kam mit dem Gesicht näher zu mir heran: Schau mal, wie ich das mache. Du sollst mich anschauen! Und das war noch schlimmer.
    Die ersten Male habe ich um mich geschlagen. Ich habe sogar versucht, sie zu kratzen, so steht es im Bericht. Sie war geduldig. Sie haben ihr angeboten, mich im Sessel festzuschnallen, aber das hat sie abgelehnt. Sie war der Meinung, dass wir ohne Freiwilligkeit keinerlei Fortschritte erzielen würden. Alles sollte von mir ausgehen, wenn ich dazu bereit wäre. Das hat mir durchaus gefallen – dass man mich ausnahmsweise nicht festschnallen wollte. Da habe ich beschlossen, mich zusammenzureißen und den Geruch zu ertragen.
    Not macht tatsächlich erfinderisch. Nach einiger Zeit habe ich einen Ausweg gefunden: Jedes Mal, wenn sie zu mir sprach, hielt ich die Luft an. Natürlich spürte ich immer noch ihren warmen Atem im Gesicht. Aber ohne den Geruch konnte ich es aushalten. Das war der Anfang unserer konstruktiven Zusammenarbeit.
    Nach achtzehn Monaten mit täglichen Sitzungen, in denen ich immer wieder die Luft anhalten und abstoßende Nahaufnahmen ihrer Stimmritze, ihrer Schleimhäute und perfekt angeordneter Porzellanzähne über mich ergehen lassen musste, habe ich es immerhin geschafft: Ich habe wieder fast normal sprechen gelernt. Mir ist nur ein leichter Akzent geblieben, dessen Ursprung niemand benennen kann, eine etwas ungewöhnliche Phrasierung, ein unmerklich versetzter Rhythmus. Es fällt in der Tat kaum auf und ist dennoch deutlich hörbar. Sie haben mir zwar immer gesagt, dass meine Sprechweise ihnen gefällt, aber ich habe gemerkt, dass sie manche Leute stört.
    Gehen zu lernen war auch nicht einfach, weil mir jedes Mal schwindlig wurde, wenn man mir das Laufgeschirr anlegte. Wenn ich an diesen Seilen hing, den Kopf hoch über dem Boden, verlor ich jede Orientierung. Sobald die Tragseile an den Deckenschienen entlangglitten, musste ich mich übergeben. Das ist ganz normal , sagte Monsieur Takano, der Krankengymnast. Nicht aufgeben. Du schaffst das schon.
    Jeden Nachmittag schnallte er mir das Geschirr um und zog mich eine oder zwei Stunden lang hinter sich her, von links nach rechts und von vorne nach hinten. Los, weiter. Stütz dich auf deine Beine! Ich ließ mich völlig willenlos mitschleifen. Meine Füße berührten zwar den Boden, aber meine Beine boten mir nach wie vor keinen Halt. Ich sah nicht die geringste Verbindung zwischen mir und meinem Körper.
    Mit der Zeit wurde es dann doch einfacher. Der Schwindel hörte irgendwann auf, das Erbrechen auch. Takano gratulierte mir. Bestimmt war er froh, nach unseren Sitzungen nicht mehr hinter mir herwischen zu müssen. Und ich machte ihm gern diese Freude. Ich mochte Takano. Er hatte Sinn für Humor, einen Ehemann, sechs Kinder und immer eine Anekdote parat.
    Eines Tages habe ich den Fuß auf den Boden gesetzt – ich meine, richtig aufgesetzt, mit der ganzen Sohle. Da lief mir ein Schauer das Bein hoch, als wäre es per Elektroschock geweckt worden. Takano hat meine Verblüffung bemerkt. Er hat mich angefeuert. Nur zu. Stütz dich auf deine Füße! Ich habe seine Anweisungen befolgt. Ein erster Schritt, er kam einem Wunder gleich. Dann der nächste, ehrfürchtig, entzückt. Auf einmal habe ich begriffen, dass ich keinem Zwang gehorchte, keinem Befehl. Ich wollte gehen. Es war mein tiefster Wunsch. Zum ersten Mal deckten sich ihre
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