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Medicus von Konstantinopel

Medicus von Konstantinopel

Titel: Medicus von Konstantinopel
Autoren: C Walden
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Erstes Kapitel

    Das Unheil ist nah
    Pera bei Konstantinopel
    Das flackernde Licht Dutzender Fackeln ließ unzählige Schatten tanzen. Flammen loderten auf, und dunkler Rauch quoll aus den Fenstern des zweistöckigen, herrschaftlichen Hauses an der Via del Piero in Pera, der Genueser Kolonie von Konstantinopel.
    Maria di Lorenzo murmelte zitternd ein Gebet. Die Lippen der jungen Frau bewegten sich beinah wie in Trance. Das lange kastanienbraune Haar fiel ihr unfrisiert über die Schultern, angegraut von der Asche, die man ihr aufs Haupt gestreut hatte.
    »O Herr, was nur haben wir getan, dass wir so bestraft werden?«, flüsterte ihr Bruder Marco, gerade 22 Jahre alt und damit anderthalb Jahre älter als Maria. »Der Jüngste Tag ist nahe, und das Tier Satan wütet über die Erde!«
    Die Pestknechte mit ihren schweren Umhängen und den Schnabelmasken riefen durcheinander und luden dabei zwei menschliche Körper auf den Karren. Es waren die bleichen, von Beulen gezeichneten Leiber von Marias und Marcos Eltern, die der faulige Pesthauch befallen und innerhalb kürzester Zeit dahingerafft hatte. Schwarzrotes Blut hatten ihre Lungen mühsam unter Schmerzen ausgeworfen und war ihnen aus Mund und Nase geronnen. Maria wollte sich dem Wagen nähern, aber einer der Pestknechte hielt sie auf und stieß sie grob zurück. Tränen liefen ihr über das Gesicht.
    »Bleibt, wo ihr seid, und freut euch der Zeit, die der Herr euch noch gelassen hat!« Der Blick hinter den Augenlöchern der Schnabelmaske wirkte unruhig.
    Maria schluckte. Sie hätte schreien mögen und konnte es doch nicht. Ein dicker Kloß schien ihr im Hals zu stecken und sie daran zu hindern, auch nur einen einzigen Ton herauszubringen. Nicht einmal mehr ein Gebet wollte jetzt über ihre Lippen kommen.
    Ein kühler Wind wehte über das Goldene Horn, jenen Meeresarm, in dem der von einer gewaltigen Eisenkette geschützte kaiserliche Kriegshafen lag. Diese Kette wurde bei Gefahr hochgezogen, um fremde Schiffe an der Einfahrt zu hindern und die eigene Flotte zu schützen. Doch das Wasser des Goldenen Horns, das Pera von der eigentlichen Stadt trennte, bewahrte keineswegs vor dem Miasma, dem Hauch des Bösen, der aus den Tiefen der Erde hervorquoll und so viel Leid und Verzweiflung über die Menschen brachte. Wenn irgendwo zwischen den rattenverseuchten Straßen Konstantinopels mit ihren verwinkelten Fachwerkhäusern der Schwarze Tod umging, dann zogen die Wolken der Fäulnis und des Übels einfach über das Wasser, und selbst eine Quarantäne war oft genug ohne Wirkung geblieben. Wie viele andere Orte war Konstantinopel vor rund hundert Jahren besonders verheerend von der Pestilenz heimgesucht worden und seitdem mehr als ein Dutzend Mal gleichsam die Brutstätte dieses Übels gewesen. Manche sagten, dass der böse Hauch die Ratten im Schlamm der unterirdischer Kanäle wachsen ließe und unsichtbare Insekten nähre, die in Mund und Nase der Menschen eindrängen und sowohl Körper als auch die Seele verdürben.
    Aus dem Halbdunkel waren Gesänge zu hören. Eine Prozession von Büßern zog durch die Straßen von Pera. Die Teilnehmer trugen graue Gewänder und flehten darum, vor dem Jüngsten Gericht Gnade zu finden.
    Die Flammen schlugen jetzt immer höher aus den Fenstern.
    Die Luft war erfüllt von den scharfen ätherischen Dämpfen. Es sollte nicht nur alles verbrennen, was sich im Haus befand, sondern alle Räume mussten darüber hinaus auch ausgeräuchert werden. Die beißenden Dämpfe bestimmter Öle könnten das Übel vielleicht für lange Zeit zurück in die niederen Erdspalten und Sümpfe vertreiben, aus denen es gekrochen sein mochte.
    Knarrend setzte sich der Wagen in Bewegung.
    »Wir werden alle sterben und der Verdammnis anheimfallen«, murmelte Marco neben ihr. Seine Augen wirkten glasig. »Satan ist mächtiger als Gott, sonst könnte das alles nicht geschehen!«
    »Was redest du da?«, fragte Maria entsetzt.
    Marco sah sie an. Das Licht der Fackeln spiegelte sich in seinen dunklen Augen.
    »Wie könnte es sonst sein, dass es kein Mittel gegen das Übel gibt, das uns heimsucht?«
    »Du versündigst dich!«
    Maria schlug ein Kreuzzeichen. Marco di Lorenzo neigte schon seit ein paar Jahren wiederholt zu Äußerungen, die der Ketzerei nahekamen und anderswo vermutlich entsprechend verfolgt worden wären. Aber bis hierher, in den Herrschaftsbereich des Kaisers von Byzanz, reichte die Macht der römischen Kurie nicht – allen Gerüchten um eine bevorstehende
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