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Lennox 03 - Der dunkle Schlaf

Lennox 03 - Der dunkle Schlaf

Titel: Lennox 03 - Der dunkle Schlaf
Autoren: Craig Russell
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    Ich für mein Teil bin jemand, dem die Vorstellung, die Vergangenheit aufzuwühlen, missfällt, und zwar deswegen, weil meiner Generation die farbenprächtigen Lebensgeschichten unserer Vorgänger vergönnt waren, nachdem in Europa und in Fernost eine kleine Party für uns geschmissen worden war. Meine eigene Vergangenheit war stets außergewöhnlich und bunt, ich muss aber zugeben, dass ich im Laufe der Jahre selbst noch den einen oder anderen Farbtupfer hinzugefügt habe. Einmal habe ich einen Film über jemanden gesehen, der mitten im Nirgendwo aufwacht und sich nicht mehr erinnert, wer er war oder woher er kam, und dieses autobiografische Defizit bereitete ihm großen Kummer. Ich hätte liebend gern sofort mit dem Kerl getauscht und für seine Amnesie sogar eine hübsche Abstandszahlung springen lassen.
    Das Aufwühlen der Vergangenheit von Joe Strachan erfolgte eher wörtlich als metaphorisch. Der Clyde musste die wohl betriebsamste Wasserstraße der Welt sein, denn auf welchen Weltmeeren man sich auch herumtrieb, jeder Luxusliner, jeder Frachter, jedes Kriegsschiff, jede Nussschale und jeder Rosteimer, den man vorbeifahren sah, war mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit auf dem Clyde gezeugt und geboren worden. Und aus ebenjenem Grund musste das Flussbett unter den Fahrrinnen durch eine schmutzdunkle Kette von Schwimmbaggern immer wieder freigeräumt werden.
    Als mit einem der unzähligen Schöpfeimer ein Sammelsurium aus Schädel, Knochen, Kleiderfetzen und goldenem Zigarettenetui aus dem Wasser des Clydes an die Oberfläche kam, hatte der Bagger im wahrsten Sinne des Wortes die Vergangenheit ans Licht geholt; eine Vergangenheit, die man am besten dort gelassen hätte, wo sie so lange gut gelegen hatte.
    Schwimmbaggercrews auf dem Clyde waren ein ziemlich phlegmatischer Menschenschlag; das war unumgänglich. Ihre Beute bestand hauptsächlich aus dem öligen Schlick, der sich in den Fahrrinnen sammelte und sie mit der Zeit verstopfte. Über den Gestank des Förderguts hätte selbst ein Mistkäfer die Nase gerümpft, enthielt es doch alles, von fossilen Baumstämmen und riesigen Elchschaufeln aus einem lange überschwemmten Urwald über Bettgestelle, Teile von Schiffsmaschinen, abgetriebenen Föten in mit Steinen beschwerten Gladstone-Taschen bis hin zu versenkten Mordwaffen, was von Bord eines dahintuckernden Wasserfahrzeugs geworfen werden konnte.
    Die sterblichen Überreste des von uns gegangenen Mr. Strachans waren keineswegs die ersten, die aus dem Clyde geborgen wurden, und mit Sicherheit würden es auch nicht die letzten sein. Zwischen den an der Wasseroberfläche treibenden Leichen, die von der Glasgower Gesellschaft für Menschlichkeit und der städtischen Hafenpolizei aufgefischt wurden, und denen, die die Baggercrews vom Flussboden heraufholten, bestand allerdings ein bedeutsamer, vorsätzlich herbeigeführter Unterschied. Denn damit eine Leiche sank und versunken blieb, war Ballast erforderlich, der gewöhnlich aus schweren Steinen in den Taschen oder um den Körper gewickelten Ketten bestand. Die Leichen, die von den Baggern nach oben gebracht wurden, waren Leichen, die für immer hätten verschwinden sollen.
    So wie die Leiche Gentleman Joes.
    Ich konnte mir die Szene gut ausmalen: wie die Crew des Schwimmbaggers einen Augenblick lang innehielt und nachdachte, was sie als Nächstes tun wollte, während sie auf das breite, fleischlose Grinsen des noch Namenlosen im schmierigen, schwarzen Schlamm des Eimers starrte. Wahrscheinlich hatte es eine Debatte gegeben, ob man die Knochen einfach wieder ins Wasser werfen sollte; wegen des goldenen Zigarettenetuis war es ganz bestimmt zu Streit gekommen. Ich vermutete jedoch, dass jemand an Bord des Kahns schon lange genug die zweiten Zähne hatte und genügend Verstand besaß, um zu begreifen, dass die Initialen JS auf einem goldenen Zigarettenetui einen ganzen Haufen Ärger bedeuten konnten. Wie auch immer, die Crew entschied sich dafür, die Glasgower Polizei zu verständigen.
    Die Entdeckung der sterblichen Überreste war komplett an mir vorbeigegangen; an mir und dem überwiegenden Teil der Einwohner Glasgows. Nur in den neusten Meldungen in einer Ausgabe des Glasgow Evening Citizen hatte sie es zu ein paar rot gedruckten Zeilen gebracht. Bedeutung, wissen Sie, ist etwas, das sich erst dann um Dinge oder Ereignisse herum entspinnt, wenn sie schon passiert sind. Sie wächst ihnen im Laufe der Zeit zu. Den Knochen, ihrer Ruhestätte und dem
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