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Todesrosen

Todesrosen

Titel: Todesrosen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Eins
    Sie fanden die Leiche auf dem Friedhof an der Suðurgata auf dem Grab von Jón Sigurðsson. Sie bemerkte sie zuerst, weil sie gerade oben auf ihm saß.
    Sie hatten im Hotel Borg gegessen und getanzt und waren von dort aus Händchen haltend die Suðurgata hochgegangen. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und sie geküsst, was sie zuerst sanft, dann leidenschaftlicher und schließlich ungestüm erwiderte. Gegen drei Uhr hatten sie das Lokal verlassen und sich ihren Weg durch die Menschenmenge in Reykjavíks Innenstadt gebahnt. Der längste Tag des Jahres lag nur ein paar Tage zurück, und das Wetter war herrlich.
    Er hatte sie zum Abendessen eingeladen. Sie kannten sich nicht besonders gut, es war erst ihre dritte Verabredung. Sie war Teilhaberin eines Software-Unternehmens, in das er sich eingekauft hatte. Beide waren, seit sie zurückdenken konnten, fasziniert von Computern, und sie fanden sich auf Anhieb sympathisch. Nach ein paar Wochen trafen sie sich auf seine Initiative hin zum ersten Mal außerhalb der Arbeit, indem er sie zum Essen einlud. Das Spiel hatten sie danach noch zwei weitere Male wiederholt, aber bereits als sie sich an diesem Abend zu Tisch setzten, war klar, dass er anders ausklingen würde als die anderen, an denen er sie nur im Auto nach Hause gefahren und sich von ihr verabschiedet hatte. Sie waren beide ohne Auto gekommen, denn sie hatte am Telefon vorgeschlagen, dass sie anschließend zu Fuß zu ihr nach Hause gehen und einen Kaffee trinken könnten. Kaffee!, dachte er im Stillen und musste grinsen.
    Beim Tanzen war ihnen in der Menschenmenge sehr warm geworden. Sie hatte blonde, kurz geschnittene Haare und ein ovales Gesicht. Ihre schlanke Figur kam in dem beigefarbenen Kostüm und den farblich darauf abgestimmten Nylonstrümpfen gut zur Geltung. Er hatte sich einen Seidenschal um den Hals gelegt, was in ihren Augen ein Zeichen von Eitelkeit war, und trug einen Anzug von Armani, den er tagsüber bei einem Herrenausstatter erstanden hatte, um sie zu beeindrucken. Das war ihm gelungen.
    Nachdem sie den Trubel in der Innenstadt hinter sich gelassen hatten, schlug sie überraschenderweise vor, über den Friedhof zu gehen, um den Weg zu ihr nach Hause abzukürzen. Es war ihm peinlich, dass er beim Küssen eine Erektion bekam, und er hatte Angst, dass sie es merken würde. Es entging ihr auch nicht. Es erinnerte sie an Schulbälle, als sie jünger war, und die Jungs die ganze Zeit, wenn sie mit ihnen tanzte, einen Ständer hatten. Wie wenig es bei ihnen braucht, hatte sie damals gedacht, und derselbe Gedanke beschlich sie jetzt auch wieder. Auf der Suðurgata war so gut wie kein Verkehr. Sie kletterten über das niedrige Tor an der Nordostecke des Friedhofs, wo der Thoroddsen-Clan tot und begraben lag, und schlängelten sich zwischen Büschen und Grabsteinen durch, wobei er die ganze Zeit Angst um seinen neuen Anzug hatte.
    Auf dem Friedhof ruhten die Angehörigen der ärmeren Schichten Seite an Seite mit respektablen Bürgern, Dichtern, Beamten, Kaufleuten, die alte dänische Familiennamen trugen, sowie Politikern und Ganoven. Sie empfand den Friedhof als eine grüne Oase mitten im Stadtgetümmel, besonders jetzt im Sommer, wenn die Bäume in vollem Laub standen.
    Sie hatte nichts weiter im Sinn gehabt, als den Weg abzukürzen, doch nun schien ihr plötzlich etwas anderes ganz besonders naheliegend. Die Nacht war warm und hell, sie war beschwipst und er ganz offensichtlich bereit. Sie schlug vor, sich hinzusetzen und sich etwas auszuruhen. Er fiel sichtlich aus allen Wolken. Ihr war nicht deswegen die Idee gekommen, weil sie auf dem Friedhof waren, so war sie nicht. Himmel, sie war doch nicht nekrophil! Aber sie hatte oft Lust verspürt, es irgendwann einmal in einer Sommernacht draußen in der Natur unter freiem Himmel zu machen, erklärte sie später dem unangenehmen Kriminalbeamten mit dem Hut, diesem Erlendur. Dort herrschte einfach Frieden, hatte sie ihm erklärt, und ein Friedhof sei ja schließlich auch Natur.
    Der Mann überlegte nicht lange, obwohl ihm für einen kurzen Augenblick wieder der neue, teure Anzug einfiel. Sie legten sich im Schutz eines hochgewachsenen Baums ins Gras, aber zogen sich nicht aus. Sie öffnete den Reißverschluss an seiner Hose, zog sich den Schlüpfer aus und setzte sich auf ihn. Mein Gott, wie komisch, es zwischen all diesen Leichen zu treiben, dachte er. Mein über alles geliebter Mann, las sie auf einem bemoosten Grabstein ihr direkt gegenüber. Ruhe in
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