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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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glaubte, es sei Mai gewesen, Mai oder Juni.
    Erschwert wurde seine Suche durch die verschiedenen Handschriften der Beamten, die über die Gräberzuteilung Buch geführt hatten. Manche, besonders jene in Kurrent, waren kaum zu entziffern. Andere waren verblaßt. Und dazu kam noch, daß sich der Nebeneffekt der Tabletten allmählich verstärkte. Sein Kopf fühlte sich an wie in einem Schraubstock, und ihm tanzten die Zeilen vor Augen. Dennoch war er entschlossen weiterzusuchen, und mochte er bis zum nächsten Tag auf diesem ausgeleierten Drehstuhl sitzen.
    Und dann fand er es. Sterbetag: 23. April. Begräbnis erfolgt am: 29. April.
    Bei dem er nicht dabeigewesen war.
    Er schrieb sich die Adresse des Grabes auf einen Zettel und stellte das Buch ordentlich zurück ins Regal. Vor dem Gebäude der Friedhofsaufsicht stand die Rikscha, er fuhr los. Der Spaten klapperte. Es roch schwer nach Gras.
    Bender Ludwig, 1892-1944. ∞
    Bender Juliane, 1898-1989.
    Von einem Ehemann hatte die alte Frau nie etwas erzählt. Aber das war jetzt egal. Er packte den Spaten und begann zu schaufeln.
    Nach einer Viertelstunde mußte er in die Grube steigen, um weiterarbeiten zu können. Nach einer Stunde hatte er offene Druckstellen an den Händen. Der Rücken tat ihm so weh, daß er immer wieder die Augen schloß und vor sich hin jammerte. Er grub weiter. Bis er, fast zwei Stunden nach dem ersten Spatenstich, auf etwas Hartes stieß. Zunächst dachte er, es sei ein Stein, wie er schon einige aus dem Grab geworfen hatte. Doch zu seiner Erleichterung legte er mit jeder Schaufel Erde, die er nach oben warf, ein Stück des Sarges frei.
    Der Deckel war verrutscht. Durch einen Spalt glaubte Jonas einen Stoffetzen zu sehen, in dem etwas Graues schimmerte. Möglicherweise spielte ihm auch seine Phantasie übel mit.
    Er richtete sich auf, atmete durch. Er wunderte sich, daß er nichts roch, nichts außer Erde.
    Verzeihung, es muß sein.
    Er schob den Deckel zur Seite. In einem verwitterten Holzkasten, der jede Farbe und Struktur verloren hatte, lag das in Lumpen gehüllte Skelett eines Menschen.
    Guten Tag.
    Das war das, was von Frau Bender geblieben war. Diese Hand hatte ihn gehalten, als sie noch von Fleisch bedeckt gewesen war. In dieses Gesicht hatte er geschaut. Als es noch ein Gesicht gewesen war.
    Auf Wiedersehen.
    Er legte den Deckel wieder auf, kletterte aus der Grube und schaufelte die aufgehäufte Erde wieder auf den Sarg hinunter. Er arbeitete mit gleichmäßiger Geschwindigkeit. Er fragte sich, ob es das wert gewesen war.
    Ja. Denn jetzt wußte er, daß die Toten tot waren. Sie waren vor dem 4. Juli tot und unter der Erde gewesen, und sie waren es noch immer. Wohin die Lebenden gegangen waren, konnte er nicht wissen. In der Erde waren sie wohl nicht, und er konnte sich auch sonst keinen Ort denken, zu dem sie gegangen waren. Aber die Toten, sie waren geblieben. Und das war immerhin eine Erkenntnis.
    Doch was war mit den Toten auf der Erde?
    Was war mit Scott in seinem Zelt in der Antarktis? Das über ihm und seinen Kameraden zusammengestürzt war? Auf dem mittlerweile wohl ein Eispanzer lag? Galt er als Toter unter der Erde? War sein Leichnam noch da?
    Was war mit Amundsen? Wenn seine Überreste die vergangenen achtzig Jahre auf einer Eisscholle verbracht hatten? Waren sie noch da?
    Was war mit all den Menschen, die in den Bergen verunglückt und nie begraben worden waren? Hatte es sie davongetragen wie die Lebenden? Oder waren sie noch da?
    Er mußte es nicht mehr wissen.
    Maries Koffer und einen Klappstuhl in der Hand, betrat er den Stephansdom. Der Weihrauchgeruch war ähnlich schwach wie beim letztenmal. Es brannten nur noch zwei Deckenlampen.
    Den Koffer und den Klappstuhl vor sich herbalancierend, machte er sich langsam, Schritt für Schritt, auf den Weg zum Lift. Er drehte sich noch einmal um. Horchte.
    Es war still.
    Er stellte Koffer und Stuhl in den Aufzug. Kehrte noch einmal zurück.
    Es war still.
    Er klappte den Stuhl auf und setzte sich. Den Koffer zog er zu sich heran. Er blickte hinunter auf die Stadt, die in der Abenddämmerung lag. Ab und zu fuhr ihm ein Windstoß ins Gesicht.
    Hoffentlich erkälte ich mich nicht, dachte er.
    Und lachte.
    Er nahm einen Kieselstein in die Hand. Betrachtete ihn. Er fühlte den Staub, der an ihm haftete. Er sah die Rundungen des Steins, die Ecken, die Vertiefungen, die winzigen Risse. Es gab keinen zweiten Stein wie diesen. So wie es keine zwei Menschen gab, die einander in allen Details
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