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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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zukommen. Der Wagen bog um die Kurve, fuhr auf die Brücke. Fuhr durch die Heiligenstädter Lände. Fuhr an der Roßauer Kaserne vorbei zum Schwedenplatz. Fuhr über die Brücke, die Augartenstraße entlang. Hatte einen Unfall am Gaußplatz.
    Der Fahrer stieg aus, wankte nach hinten, steckte die Hand in den Kofferraum. Stieg wieder ein, fuhr weiter.
    Jonas schaltete ab.
    Er fand sich im Prater wieder. Es war kurz vor Mittag. Er hatte einen ausgedehnten Spaziergang hinter sich, an dessen Einzelheiten er sich jedoch nicht erinnerte. Er wußte nur noch, daß er einfach losmarschiert war. Er war in Gedanken versunken, die ihm längst entglitten waren.
    Ein Bein zog er nach. Den Grund dafür kannte er nicht. Er versuchte, normal zu gehen. Mit etwas Mühe gelang es.
    Er ging über die Jesuitenwiese. Er wußte nicht recht, was er hier verloren hatte, doch er ging weiter. Die Sonne stand fast senkrecht über ihm.
    Ihm fiel ein, daß er die Gasthäuser noch einmal hatte besuchen wollen. Jene, in denen er eine Nachricht hinterlassen hatte. Um sich das betreffende Essen, den betreffenden Tag ins Gedächtnis zu rufen. Aber jetzt hatte er keine Lust mehr.
    Er fühlte sich, als habe er eine lange Schlacht hinter sich. Die so lange gedauert hatte und in der es so wüst zugegangen war, daß es keine Rolle mehr spielte, wer gewonnen hatte.
    Er schluckte eine Tablette. Er wechselte hinüber auf das Gelände des Wurstelpraters. Beim Fahrradverleih setzte er sich in eine Rikscha. Eines der überdachten Vierräder, mit denen Touristen gern durch den Prater gestrampelt waren. Etwas gab es für ihn noch zu erledigen.
    In stetem Rhythmus die Pedale tretend, fuhr er über den Zentralfriedhof. Neben ihm klapperte der Spaten, den er bei der Friedhofsgärtnerei aufgepackt hatte, gegen das Gestänge der Rikscha. Sanfter Wind blies, und die Sonne hatte sich hinter eine kleine Wolkenbank verzogen, was die Fahrt noch angenehmer machte. Im Gegensatz zu jener in der Stadt empfand er die Stille dieses Ortes als beruhigend. Zumindest schüchterte sie ihn nicht ein.
    Auf der Suche nach einem frisch aufgeschütteten Erdhaufen kam er an den Begräbnisstellen vieler Berühmtheiten vorbei. Manche davon erinnerten an die Prachtgräber von Fürsten. Andere waren schlicht, mit nichts als einer unscheinbaren Tafel, die den Namen des Toten verkündete.
    Jonas staunte, wie viele berühmte Persönlichkeiten hier begraben lagen. Bei einigen Namen fragte er sich, wieso er sie in der Prominentenzeile las, denn er hatte nie von ihnen gehört. Bei anderen war er überrascht zu lesen, daß sie erst vor ein paar Jahren gestorben waren, er hatte sie seit Jahrzehnten tot gewähnt. Und bei anderen wiederum wunderte er sich, weil er von ihrem Tod nicht erfahren hatte.
    So gut gefiel ihm die langsame Fahrt durch den Park, daß er zeitweise vergaß, weshalb er gekommen war. Er dachte an seine Kindheit zurück, in der er an der Seite seiner Großmutter öfters mit der Straßenbahn hergefahren war, um das Grab der Urgroßeltern zu pflegen. Und später hatte er seine Mutter zum Grab der Großmutter begleitet. Die Mutter hatte Lichter angezündet, Unkraut ausgerissen und Blumen eingesetzt, während er umherspaziert war und den Friedhofsduft eingesogen hatte, diesen typischen Duft nach Stein, Blumen, Erde und frisch gemähtem Gras.
    An den Tod hatte er nicht gedacht, nicht einmal an die tote Großmutter. Beim Anblick der Bäume hatte er sich ausgemalt, was für wunderbare Spiele er an diesem Ort mit seinen Freunden spielen könnte und wie lange es dauern würde, bis man beim Versteckspiel gefunden würde. Wenn ihn die Mutter gerufen hatte, damit er ihr die Gießkanne am Brunnen fülle, war er widerwillig in ihre Welt zurückgekehrt.
    In gewisser Weise war er den Toten näher gewesen als den Lebenden ringsum. Die Verstorbenen unter seinen Füßen bezog er auf das selbstverständlichste in seine Tagträume ein, die Erwachsenen hingegen, die gebeugt ihre Taschen über die Pfade schleppten, blendete er aus. In seiner Phantasie war er mit seinen Freunden allein gewesen.
    Mußte es denn wirklich ein frisches Grab sein? So viel lockerer war die Erde darauf auch nicht.
    Ihm kam ein Gedanke.
    Die Daten nach 1995 wurden im Computer gespeichert. In den Jahren davor waren schwere Folianten verwendet worden, die nach Moder rochen und deren Blätter zum Teil lose waren. In einem solchen Wälzer mußte Jonas suchen. Das Jahr wußte er genau, 1989. Beim Monat war er sich nicht so sicher. Er
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