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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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glichen, so gab es auch keine zwei Steine, die in Form, Farbe und Gewicht exakt übereinstimmten. Dieser Stein war ein Unikat. Ein zweiter wie dieser, den er gerade
    jetzt
    in der Hand hielt, existierte nicht.
    Er warf ihn über die Brüstung.
    Er wußte, er würde diesen Stein nie wiedersehen. Nie wieder. Selbst wenn er es wollte. Und würde er den ganzen Stephansplatz absuchen, er würde ihn nicht mehr finden. Und würde er einen finden, der dem weggeworfenen ähnlich sah, so würde er niemals Gewißheit erlangen, ob er tatsächlich den richtigen in der Hand hielt. Niemand würde es ihm sagen können. Keine Gewißheit. Nur Vagheit.
    Er erinnerte sich daran, wie er ihn gehalten hatte. Daran, wie sich der Stein angefühlt hatte. Er erinnerte sich an den Moment, in dem er ihn gehalten hatte.
    Der Schläfer kam ihm in den Sinn und damit etwas, was ihn früher beim Gedanken an Zweikämpfe beschäftigt hatte. Wenn zwei Menschen miteinander rangen, weil der eine den anderen erwürgen oder erstechen wollte, waren sie einander so nah, daß räumlich gesehen kaum noch ein Unterschied bestand zwischen dem einen und dem anderen, zwischen Angreifer und Opfer. Aber eben nur räumlich. Haut lag an Haut. Die eine Haut war Mörderhaut, die andere war Opferhaut. Das eine Ich griff an, das andere, zwei Millimeter entfernt, wurde getötet. So knapp, so nah, so groß der Unterschied, der eine zu sein oder eben der andere.
    Nicht so in seinem Fall mit dem Schläfer.
    Er begann damit, Tabletten über die Brüstung in die Tiefe zu schnippen.
    Das Ich. Das Ich der anderen. Die anderen wahrnehmen. Wahrnehmen, was mit ihnen passiert.
    Wieso war er am 4. Juli nicht schreiend erwacht?
    Diese Frage hatte er sich schon früher oft gestellt. Wenn in irgendeinem Erdteil eine Unzahl Menschen durch ein Unglück, durch eine Naturkatastrophe, durch Bomben umkamen, und zwar zur selben Zeit, wieso spürte er nichts davon? Wie war es möglich, daß so viele vergingen, ohne daß er eine Nachricht von ihnen empfing? Wieso konnte es Hunderttausende Ichs zugleich in den Tod reißen, ohne daß sie eine Nachricht aussandten? Wie war es möglich, daß man in genau dieser Sekunde Brot aß oder fernsah oder sich die Nägel beschnitt, ohne daß einen ein Schauer überlief, ohne daß man einen elektrischen Schlag fühlte? So viel Leid? Und keine Signale?
    Das konnte nur eines bedeuten: Das Prinzip zählte, nicht der einzelne. Entweder sie waren alle verurteilt. Oder keiner.
    Oder keiner. Also was machte er dann hier? Wieso war er allein aufgewacht? Gab es im gesamten Universum etwa nichts, das ihn wollte?
    Marie. Marie wollte ihn.
    In einer Hand den Koffer, kletterte er über die Brüstung. Weit unter sich auf dem Stephansplatz sah er den Lkw stehen.
    Er blickte über die Stadt. Er sah den Millennium-Tower, den Donauturm, die Kirchen, die Häuser. Das Riesenrad. Sein Mund war trocken, seine Hände waren feucht. Er roch nach Schweiß. Er setzte sich wieder.
    Ob er es bewußt machen sollte? Oder ob er besser einem Impuls gehorchte?
    In seinem Notizheft blätternd, kam er zu der Stelle, an der er sich selbst aufforderte, am 4. September an den Tag zu denken, an dem er diese Zeilen geschrieben hatte. Es war der 4. August gewesen, er hatte es in seinem Zimmer in Kanzelstein notiert. Und nun war der 20. August.
    Er dachte an den 4. September. An jenen in zwei Wochen. Und an jenen in tausend Jahren. Es würde kein Unterschied zwischen den beiden Tagen bestehen, kein nennenswerter jedenfalls. Er hatte einmal gelesen, wenn es der Menschheit glückte, sich selbst auszurotten, würden nur hundert Jahre verstreichen, bis keine Spur ihrer Zivilisation mehr vorhanden sei. Am 4. September in tausend Jahren würde also all das vor ihm verschwunden sein. Aber schon am 4. September in zwei Wochen würde es niemanden geben, der ein Betrachter sein konnte. Welcher Unterschied bestand demnach zwischen den beiden Tagen?
    Marie. Er sah ihr Gesicht. Ihr Wesen.
    Er klemmte sich den Koffer zwischen die Beine. Er holte die alte Spieluhr aus der Tasche. Maries Mobiltelefon nahm er in die Hand.
    Er zog die Spieluhr auf.
    Er dachte an Marie.
    Er kippte.
    Nach vorne.
    Langsam.
    Immer langsamer.
    Kippte er.
    Das Geräusch, das in weiter Entfernung anschwoll, kannte er schon. Nur daß es diesmal in ihm selbst aufzusteigen schien. In ihm und doch weit entfernt. Zugleich umfing ihn eine Helligkeit, die ihn zu tragen schien. Er fühlte sich ergriffen und umfaßt, und er meinte alles, was ihm
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