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0966 - Der Weg des Jägers

0966 - Der Weg des Jägers

Titel: 0966 - Der Weg des Jägers
Autoren: Oliver Fröhlich und Stefan Albertsen
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Hauptgebäude der New Yorker Bibliothek
    Lorraine Dawson wusste, dass es sich nicht gehörte, die Besucher anzustarren. Doch sie konnte nicht anders. In ihren dreiundzwanzig Jahren als Bibliothekarin hatte sie genug Erfahrung gesammelt, um die Menschen an den Lesetischen halbwegs einschätzen zu können.
    Und dieser roch nach Ärger!
    Bereits bei seiner Ankunft vor zwei Stunden war ihr der Fremde aufgefallen. Sein übergroßes und gebogen aus dem Gesicht hervorspringendes Riechorgan hatte sie unwillkürlich an eine Figur aus der Muppet-Show erinnert - und so hieß er für Lorraine vom ersten Moment an »Gonzo«.
    Sein unmodischer Lodenmantel, das Tweed-Jackett mit einem Muster, das bei längerer Betrachtung Kopfschmerzen oder gar Hirnbluten auslösen konnte, die zu weit geschnittene Hose, die wie eine Zeltplane um die mageren Hüften schlackerte, und die klobigen, kackbraunen Halbschuhe, die bei jedem Schritt quietschten und für irritierte oder genervte Blicke anderer Besucher sorgten - schon die Kleidung des Männleins ließ Lorraine zusammenzucken.
    Doch das alleine war es nicht. Vielmehr hatte er eine Ausstrahlung an sich, die ihr ganz und gar nicht gefiel. Als lauere hinter der harmlosen Fassade der Skurrilität etwas Gefährliches.
    Plötzlich schoss ihr das Wort Junkie durch den Sinn. Auch wenn Gonzo gewiss nicht wie ein Musterexemplar aussah, umgab ihn die Aura der Sucht, der Gier. Sie war froh, dass sich heute nur wenige Besucher an den langen Tischreihen tummelten. So konnten sich auch nicht viele beschweren!
    Sie versuchte, sich zu zwingen, nicht dauernd zu Gonzos Tisch zu starren, aber es gelang ihr nicht. Allerdings hatte er in den zwei Stunden seiner Anwesenheit nichts getan, was ihr ungutes Gefühl bestätigt hätte. Die einzige Sucht, der er offenbar verfallen war, war die nach Wissen, denn vor und neben ihm türmten sich die Bücherstapel. Eine richtiggehende Burg! Hoffentlich räumte er das später alles wieder in die Regale.
    Lorraine wandte sich ab, um die Bestellung der neuen Thriller für das laufende Quartal abzuschließen.
    Es fiel ihr schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und den Mann mit der Geiernase aus ihren Gedanken zu verdrängen. Doch als sie es endlich geschafft hatte, währte diese Gnade nur wenige Sekunden.
    Ein dumpfer Laut erklang, gefolgt von einem Ächzen. Sie löste die Aufmerksamkeit vom Computerbildschirm und sah unwillkürlich zu Gonzos Tisch.
    Die Büchertürme waren eingestürzt und die meisten der Folianten lagen auf dem Boden verstreut. Gonzo stand inmitten des Chaos, starrte mit wildem Blick umher und schnappte nach Luft. Im nächsten Moment sank er nieder und riss auch die letzten Schmöker mit sich.
    Scheiße! Der hat einen Herzinfarkt!
    Lorraine sprang auf und hastete hinter dem Tresen hervor.
    »Rufen Sie einen Krankenwagen!«, schrie sie ihrer Assistentin Sally zu, die am Schreibtisch saß, den Telefonhörer umklammerte und ihr mit Panik in den Augen entgegenglotzte.
    Sie eilte auf Gonzo zu, der so weit nach vorne gesunken war, dass er mit der Nasenspitze den Boden berührte.
    Einige der Anwesenden sprangen auf und beobachteten das Geschehen, während andere sich nicht darum scherten. Lorraine hörte getuschelte Worte, beachtete sie aber nicht.
    Sie hatte in ihrer Karriere schon vereinzelte Vorfälle dieser Art miterleben müssen. Zumeist Schwächeanfälle wegen Übermüdung oder Drogenkonsum.
    Also doch ein Junkie!
    Stew Bennett, ein Jurastudent, der viel Zeit in der Bibliothek verbrachte, hetzte herbei und ging neben Gonzo in die Knie. Er war ein netter Kerl. Trotzdem hätte sich Lorraine in diesem Moment über einen fähigen Medizinstudenten mehr gefreut.
    Stew umfasste die Schultern des Fremden und zog dessen Rumpf langsam zu sich heran.
    Ob das richtig war? Immerhin wussten sie nicht, was dem Mann fehlte. Lorraines Blick fiel auf Gonzos Gesicht. Trotz des leichten Goldscheins der Kristallleuchter wirkten die Züge des Gestürzten mehlig bleich.
    Wie bei einem Toten , dachte sie.
    Der Mann hielt die Augen geschlossen, doch seine Lider flatterten. Er presste die Arme gekreuzt vor die Brust. Ununterbrochen rieb er sich die Unterarme, als friere er. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, dennoch klapperten seine Zähne! Ganz so tot konnte er also nicht sein.
    »Sir? Können Sie mich hören?«
    Der Fremde reagierte nicht auf Lorraines Frage.
    »Nehmen Sie Medikamente ein, die Sie jetzt brauchen?«
    Wieder keine Antwort!
    »Sollen wir ihn nicht besser irgendwo
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