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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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Mensch, der lange tot war, vor vielen Jahren in einer bestimmten Sekunde gesehen hatte.
    Er erinnerte sich noch genau an den Anruf. Er war in der Brigittenauer Lände gesessen, wo er erst kurz zuvor eingezogen war. Er arbeitete sich durch ein kompliziertes Kreuzworträtsel, hatte ein Bier aufgemacht und sich auf einen beschaulichen Abend eingestellt, als das Telefon läutete. Sein Vater sagte in einer Klarheit, die für ihn ungewöhnlich war: »Wenn du sie noch einmal lebend sehen willst, mußt du kommen.«
    Sie war schon lange krank gewesen, und daß es passieren würde, hatten sie alle drei gewußt. Dennoch klang dieser Satz in seinen Ohren wie ein Donnerschlag. Er ließ den Kugelschreiber fallen und fuhr in die Hollandstraße, wohin man sie vom Krankenhaus auf ihren Wunsch gebracht hatte.
    Sprechen konnte sie nicht mehr. Er faßte ihre Hand, sie drückte sie. Die Augen öffnete sie nicht.
    Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. Sein Vater saß auf der anderen Seite. Jonas dachte daran, daß er hier in diesem Raum, in diesem Bett geboren worden war. Und nun lag in diesem Bett seine Mutter im Sterben.
    In den frühen Morgenstunden war es soweit. Sie erlebten den Moment bewußt mit. Seine Mutter röchelte laut auf. Verstummte. Erstarrte.
    Jonas dachte daran, daß sie, wenn man den Berichten von Menschen mit Nahtoderfahrungen Glauben schenken durfte, nun über ihnen war. Daß sie über ihnen emporschwebte. Auf sie hinunterblickte. Auf das, was sie zurückließ. Auf sich selbst.
    Er blickte zur Decke.
    Er wartete, bis der Amtsarzt kam und den Tod bestätigte. Er wartete auf die Träger von der Städtischen Bestattung. Beim Verladen des Leichnams ertönte ein dumpfes Geräusch, als sei der Kopf innen gegen den Blechsarg geprallt. Sein Vater und er zuckten zusammen. Die Bestattungsleute bewegten keine Miene. Schweigsamere, unnahbarere Menschen hatte er nie getroffen.
    Er half seinem Vater bei den Behördenwegen, bei der Bestätigung des Totenscheins in einer düsteren Kanzlei und bei der Anmeldung für die Feuerbestattung. Dann fuhr er nach Hause.
    An seinen Tisch in der Brigittenauer Lände zurückgekehrt, hatte er sich an den Vortag erinnert. Als sie noch gelebt hatte. Als er noch nichts gewußt hatte. Er ging umher, betrachtete die Gegenstände in den Räumen und dachte: Als ich dies das letztemal sah, lebte sie noch. Er dachte es vor der Kaffeemaschine, er dachte es am Herd, er dachte es vor der Nachttischlampe. Und er hatte es an der Zeitung gedacht. Er hatte das Kreuzworträtsel weitergelöst, auf die Buchstaben vom Vorabend geblickt und sich erinnert.
    Ein Davor. Ein Jetzt.
    Gegen Mitternacht bekam er Hunger. Im halbdunklen Gang eines Supermarkts schmierte er sich einige Vollkornbrote mit Marmelade.
    Die Schirme zeigten das gewohnte Bild. Er hatte die Kameras auf automatische Wiederholung geschaltet, und so liefen die Aufnahmen von der Kamera im Spiegel und jener des Zimmers, in dem sich niemand befand, schon zum drittenmal durch. Er streckte den verspannten Rücken, er verzog vor Schmerz das Gesicht. Er legte sich aufs Bett und nahm die Zeitungen zur Hand.
    An diese Schrift, an dieses Layout erinnerte er sich. So hatte der Kurier in seiner Kindheit ausgesehen.
    Er las die Artikel in seiner Geburtstagszeitung. Ihr Inhalt drang nur unvollständig zu ihm durch. Ihn faszinierte, daß er las, was die Menschen an jenem Tag gelesen hatten, an dem ihn seine Mutter zur Welt gebracht hatte. Das hier hatten die Leute in der Hand gehabt, damals.
    Die Zeitung vom nächsten Tag studierte er noch genauer. Immerhin las er hier, was sich an seinem Geburtstag ereignet hatte. So erfuhr er, daß in den USA gegen den Krieg in Asien protestiert worden war, daß in Österreich Wahlkampfstimmung herrschte, daß in der Brigittenau ein Betrunkener sein Auto in der Donau versenkt hatte, ohne jemanden zu verletzen, daß die Wiener Klubs im Fußball gewonnen hatten und daß die Menschen angesichts des strahlenden Wetters in die Freibäder geströmt waren.
    Das war sein Geburtstag gewesen. Sein erster Tag auf der Erde.
    Am Morgen schaltete er alle Scheinwerfer aus und steckte die Fackeln in einen Wassereimer. Es zischte, Dampf stieg auf. Den Videorekorder, den er auf dem Weg in einem Elektrogeschäft besorgt hatte, schloß er an den Fernseher an. Er legte die Kassette von der Fahrt zum Schwedenplatz ein, die er sich nach dem Schnitt nie angesehen hatte.
    Er setzte sich aufs Bett, drückte auf Start.
    Er sah den Spider auf sich
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