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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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dem Dach des Lkws gestanden und an die Kameras gedacht. An die in Ansbach. Diese dort, guten Tag. An die in Passau, diese dort. An die in Saarbrücken. An dieses Stück Saarbrücken, das er hier nun sah. An dieses Stück Amstetten. Das er hier nun sah.
    Er schloß die Augen. Erinnerte sich an die Minuten auf dem Dach. Fühlte das Dach des Lkws unter sich. Spürte die Hitze. Roch den Geruch. Damals war
    das hier
    – er öffnete die Augen –
    gewesen.
    Das hier.
    War damals
    gewesen.
    Und jetzt war es vorbei. Galt nur noch auf diesen Bändern. Aber da für immer. Ob es gezeigt wurde oder nicht.
    Er schaltete alle elf Kameras auf Standbild.
    In der Hollandstraße setzte er sich auf den Fußboden und klappte den Koffer auf. Er hatte Maries Sachen ungeordnet hineingeworfen, und der Inhalt quoll ihm entgegen. Er faßte in die weichen Stoffe. Zog ein ums andere Stück heraus, roch daran. Glatte, kühle Hemden. Ihr Duft. Sie.
    Er wog ihr Mobiltelefon in der Hand. Keinen Gegenstand verband er stärker mit ihr, nicht ihre Schlüssel, nicht ihre Shirts, nicht ihre Slips, nicht ihren Lippenstift, nicht ihren Ausweis. Dieses Telefon hatte ihm ihre Nachrichten geschickt. Dieses Gerät hatte sie stets bei sich geführt. Und in diesem Gerät waren die Nachrichten enthalten, die er ihr gesandt hatte. Vor und nach dem 4. Juli.
    Und er wußte den PIN -Code nicht.
    Er räumte alles wieder ein. Den Koffer stellte er zur Tür.
    Er setzte die Scheuklappenbrille auf. Die Computerstimme dirigierte ihn durch die Stadt. Mehrmals fühlte er einen Ruck und hörte zugleich ein schleifendes Geräusch.
    Das Haus, vor dem er die Brille abnahm, war ein Neubau in der Krongasse, nur ein paar Straßen entfernt von der verlassenen Wohnung seines Vaters. Es machte einen freundlichen Eindruck. Die Tür stand offen, so daß er das Brecheisen im Kofferraum lassen konnte.
    Er ging hinauf in den ersten Stock. Drückte die Klinken. Alles versperrt. Er ging weiter in den zweiten Stock. Tür Nummer 4 sprang auf. Er las das Namensschild.
    Ilse-Heide Brzo / Christian Vidovic
    Es zog. Vorne und hinten schienen Fenster geöffnet zu sein. Er ging nach links. Das Schlafzimmer. Ein zerwühltes Bett. An der Wand eine riesige Weltkarte. Jonas maß die Entfernung, die er bei seiner Reise nach England zurückgelegt hatte. Es war gar nicht so weit. Afrika, das war Weite. Australien, das war weit weg. Aber von Wien nach England, das war nur ein Ausflug.
    Smalltown. Dort war er gewesen. An diesem Punkt.
    Das Arbeitszimmer. Zwei Tische. Einer mit Computer. Einer, auf dem eine mechanische Schreibmaschine stand. Bücherregale an den Wänden. Die meisten Titel kannte er nicht. In einem der Regale standen je ein Dutzend Exemplare drei verschiedener Bücher. Jonas las die Titel. Ein Schachbuch, ein Krimi, ein Lebensratgeber.
    Er wandte sich der Schreibmaschine zu. Eine Olivetti lettera 32. Daß jemand noch mit so einem mechanischen Monster geschrieben hatte, verblüffte ihn. Wozu war dann der Computer gut?
    Er drückte die Tasten. Sah, wie die Typen nach vorn klappten.
    Er spannte Papier ein. Schrieb den Satz:
    Hier stehe ich und schreibe diesen Satz.
    Eine Schreibmaschine. Alle Buchstaben waren da. In der richtigen Reihenfolge getippt, konnten sie alles bezeichnen. Mit ihnen konnten die erschreckendsten Romane geschrieben werden, die Weltformel, heilige Bücher, Liebesverse. Man mußte nur die richtige Reihenfolge wissen. Buchstabe an Buchstabe. Wort. Wort an Wort. Satz. Satz an Satz. Das Ganze.
    Er erinnerte sich, was er sich in seiner Kindheit unter einer Fremdsprache vorgestellt hatte. Er war nicht auf den Gedanken gekommen, es könnte etwas wie Vokabel und unterschiedliche Grammatik geben, er hatte vielmehr gedacht, ein bestimmter Buchstabe im Deutschen entspreche einem bestimmten Buchstaben im Englischen und wiederum einem anderen im Französischen oder Italienischen. Vielleicht war ein deutsches E ein englisches K. Ein deutsches L ein französisches X. Ein deutsches R ein ungarisches M. Ein italienisches S ein japanisches F.
    Und Jonas hieß in England Wilvt, in Spanien Ahbug, in Rußland Elowg.
    Die Wohnküche. Sitzecke, Eßtisch, Küchenzeile. Bilder an den Wänden. Auf einem waren eine Frau und ein Mann mit einem kleinen Jungen zu sehen. Die Frau lächelte, der Junge lachte. Eine schöne Frau. Mit blauen Augen, wohlgeformtem Gesicht, guter Figur. Der Junge, ein Stück Brot in der Hand, auf etwas zeigend. Ein liebes Kind mit guten Augen. Dieser Vidovic hatte Glück gehabt
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