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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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Not. Er führte nicht das Leben, das sie ihm wünschten.
    Immer hatte er an die Eltern denken müssen, wenn er einen Jungen im Sandkasten gesehen hatte, der von einem Größeren schikaniert wurde. Wenn er die Arbeiter mit den abgezehrten Gesichtern und den schmutzigen Nägeln gesehen hatte, mit dem Husten. Die verbrauchten Körper, die abgestumpften Geister. Wenn er die Gescheiterten gesehen hatte. Die Leidenden. Die Ängstlichen. Die Verzweifelten. Der Gram ihrer Eltern war ihnen abzulesen, nicht nur der eigene.
    Ob ihn seine Eltern in diesem Moment sahen?
    Nachdem er bei Saarbrücken eine weitere Kamera abgeholt hatte, nahm er die nächste Tablette. Er hörte einen Wasserfall rauschen, der nur in seinem Kopf existierte. Er blickte sich um. Er saß am Rand des Laderaums und ließ die Beine baumeln. Eine Mineralwasserflasche war neben ihm umgefallen, das Wasser auf die Straße geflossen. Er trank und schraubte den Verschluß zu.
    Er fuhr, lud Kameras ein. Zuweilen dachte er bewußt über bevorstehende Schwierigkeiten nach, dann ließ er wieder die Gedanken treiben. Auf diese Weise schlitterte er manchmal in eine Welt, die ihm unbehaglich war, und er mußte sich mit Gewalt herausreißen, indem er seinem Geist Bilder und Motive zuwarf, die sich bewährt hatten. Bilder aus einer Eiswüste. Bilder vom Strand.
    Er fuhr mit Höchstgeschwindigkeit. Ihm war klar, daß er die auf der Straße abgestellten Kameras bei Nacht nicht leicht finden würde. Doch er mußte dreimal halten: einmal, weil er zur Toilette mußte, einmal weil er Hunger hatte, und einmal, weil er das Sitzen nicht mehr ertrug und das Gefühl hatte, wahnsinnig zu werden, wenn er nicht sofort ausstieg und ein paar Schritte lief.
    Er kam bis Regensburg. Er lud die Kamera ein. In der Raststation, in der er bei der Hinfahrt gegessen hatte, schlenderte er durch den Tankstellenshop und betrachtete die mit Süßigkeiten und Erfrischungen gefüllten Regale. Auf nichts davon hatte er Lust, er wollte nur gehen und den Geist treiben lassen.
    Er blätterte in Sportzeitungen. Er versuchte, in einem Artikel einer türkischen Zeitung zu verstehen, was sein Inhalt war. Er spielte mit den Knöpfen an der Lichtschaltzentrale. Er schob einen Metallkorb voller Motorölflaschen vor die Tankstelle und betrachtete ihn auf dem Bildschirm der Überwachungskamera. Er stellte sich vor die Kamera und schnitt Grimassen. Er kehrte zum Monitor zurück. Sah den Korb mit den Flaschen.
    Noch ehe die Morgendämmerung zu erahnen war, zog er sich wieder in den Führerstand des Lkws zurück. Nahe Passau war es so hell, daß er mit Glück das Lager der Straßenmeisterei erkannte, als er direkt daran vorbeifuhr.
    An der österreichischen Grenze fühlte er sich von einer Last befreit. Früher hatte er dies auch oft erlebt, aber nur, wenn er in die andere Richtung gefahren war. Nun war er fast fertig. Zwei Kameras noch. Dann nach Wien. Dann den Rest erledigen.
    Er blickte zum Koffer, der hinter ihm in der Koje lag. Das war sie gewesen. Die, mit der er das Gefühl gehabt hatte, Teil von etwas Großem zu sein. Daß Marie die Richtige gewesen war, hätte ihm niemand bestätigen müssen. Aber für anderes hätte er sich ein solches Orakel gewünscht. Wann in seinem Leben war er in schlimmster Lebensgefahr gewesen, ohne es zu merken? Und die Antwort hätte etwa lauten sollen: Am 23.November 1987, ungesicherter Stromkasten, durch Zufall nicht geöffnet. Oder: 4. Juni 1992, schon etwas Aggressives zum frechen Mann in der Bar sagen wollen, Ärger letztlich doch hinuntergeschluckt, andernfalls in Schlägerei getötet worden. Auch Profaneres hätte ihn interessiert: Welchen Beruf hätte er ergreifen müssen, um reich zu werden? Welche Frau wäre wann und wo sofort mit ihm nach Hause gegangen? Hatte er Marie schon vor ihrer ersten bewußten Begegnung einmal getroffen, ohne sich zu erinnern? Oder, gab es doch irgendwo auf der Welt eine Frau, die genau das, was er war, suchte? Antwort: Esther Kraut in der Soundsostraße in Amsterdam, sie hätte dich gesehen und wäre sofort über dich hergefallen.
    Nein, das war zu billig. Die Antwort hätte wohl gelautet: Du hast sie bereits gefunden.
    Frage: Welche berühmte Frau hätte sich in mich verliebt, wenn ich was getan hätte? Antwort: Die Malerin Mary Hansen, wenn du ihr am Abend des 26. April 1997 im Foyer des Hotel Orient in Brüssel spontan und wortlos einen Glücksbringer geschenkt hättest.
    Frage: Wer wäre der beste Freund geworden, den ich je hätte haben
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