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Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher

Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher

Titel: Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
Autoren: Georges Simenon
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    Es war das erste Mal, seit sie allmonatlich beim Ehepaar Pardon zum Essen eingeladen wurden, dass Maigret den Abend am Boulevard Voltaire in unangenehmer Erinnerung behalten sollte.
    Angefangen hatte es schon zu Hause, am Boulevard Richard-Lenoir. Seine Frau hatte telefonisch ein Taxi bestellt, weil es wie schon die letzten drei Tage regnete. Dem Radio zufolge hatte es seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr so geregnet. Es goss in Strömen. Der Wind peitschte einem das eisige Wasser ins Gesicht und auf die Hände, klatschte die nassen Kleider auf den Leib.
    Auf den Treppen, in den Aufzügen und Büros hinterließen die Schuhsohlen dunkle Flecken, und die Leute hatten alle sehr schlechte Laune.
    Sie waren hinuntergegangen und hatten fast eine halbe Stunde unter der Haustür gewartet; als das Taxi endlich kam, waren sie schon völlig durchgefroren. Dann hatten sie den Fahrer auch noch anflehen müssen, dass er eine so kurze Fahrt akzeptierte.
    »Entschuldigen Sie die Verspätung …«
    »Zurzeit kommen doch alle zu spät … Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir gleich mit dem Essen anfangen?«
    In der Wohnung war es warm und gemütlich gewesen, was umso behaglicher wirkte, da sie den Sturm an den Fensterläden rütteln hörten. Madame Pardon hatte mit ihrem unvergleichlichen bœuf bourguignon aufgewartet, und dieses ebenso kräftige wie raffinierte Rinderragout hatte zunächst das Gespräch bestimmt.
    Dann hatte man über die deftige regionale Küche gesprochen, über das cassoulet, die potée lorraine, die bouillabaisse, die Kuttelgerichte von Caën.
    »Im Grunde sind doch die meisten Rezepte aus der Not geboren … Wenn es schon im Mittelalter Kühlschränke gegeben hätte …«
    Worüber sie sonst noch gesprochen hatten? Die beiden Frauen hatten sich wie immer in eine Ecke des Wohnzimmers gesetzt und leise miteinander geplaudert. Pardon hatte Maigret in sein Sprechzimmer entführt, um ihm eine seltene Buchausgabe zu zeigen, das Geschenk eines Patienten. Sie hatten sich gedankenlos dort hingesetzt, und Madame Pardon hatte ihnen den Kaffee und den Calvados herübergebracht.
    Pardon war müde. Seit einiger Zeit schon wirkte er abgespannt, und manchmal verriet sein Blick etwas wie Resignation. Gleichwohl arbeitete er fünfzehn Stunden am Tag, und nie klagte oder jammerte er. Vormittags saß er in seiner Praxis, nachmittags zog er erst mit seiner schweren Arzttasche von Wohnung zu Wohnung, dann ging er zurück in die Praxis, wo das Wartezimmer immer voll war.
    »Wenn ich einen Sohn hätte, der Arzt werden wollte, ich glaube, ich würde versuchen, ihn davon abzubringen …«
    Maigret hätte am liebsten verschämt die Augen abgewandt. Aus Doktor Pardons Mund hätte man nichts weniger erwartet als das, denn er war Arzt mit Leib und Seele, in einem anderen Beruf konnte man ihn sich gar nicht vorstellen.
    An diesem Abend war er entmutigt, niedergedrückt, und vor allem ließ er seinen Gefühlen freien Lauf.
    »Sie wollen Gesundheitsbeamte aus uns machen und eine medizinische Maschinerie installieren, die allen die vermeintlich richtige ärztliche Versorgung verpasst.«
    Maigret blickte ihm in die Augen und zündete sich eine Pfeife an.
    »Nicht nur Gesundheitsbeamte, sondern obendrein auch noch schlechte«, fuhr der Arzt fort, »denn wir können dem einzelnen Patienten nicht mehr die nötige Zeit widmen … Manchmal schäme ich mich richtig, wenn ich sie fast aus der Praxis hinauskomplimentiere. Ich sehe ihren verunsicherten, fast flehenden Blick. Ich spüre, dass sie von mir etwas anderes erwarten, Fragen, gute Worte, einfach ein paar Minuten Zeit, in denen ich ganz für sie da gewesen wäre.«
    Er hob sein Glas.
    »Auf Ihr Wohl.«
    Er bemühte sich zu lächeln, es wirkte gezwungen, und das passte nicht zu ihm.
    »Wissen Sie, wie viele Patienten ich heute hatte? Zweiundachtzig! Und das ist keine Ausnahme … Abends müssen wir dann auch noch die verschiedensten Formulare ausfüllen … Entschuldigen Sie, wenn ich Sie damit langweile. Sie haben sicher auch Ihre Sorgen am Quai des Orfèvres …«
    Wovon hatten sie danach gesprochen? Von irgendwelchen Dingen, an die man sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnert. Pardon hatte hinter seinem Schreibtisch gesessen und eine Zigarette geraucht, Maigret auf dem harten Stuhl, auf dem sonst die Patienten saßen. Hier herrschte ein charakteristischer Geruch, den der Kommissar von seinen früheren Besuchen schon kannte. Ein Geruch, der an den auf einer Polizeiwache erinnerte. Ein
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