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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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Alles fängt mit A an
    Wenn montags auf der Arbeit darüber geredet wird, was man am Wochenende so gemacht hat, sage ich nie: Ich war mit Cenk im Park. Oder im Zoo. Oder im Kino. Ich sage nicht, ich habe mit Cenk Neo Cube gespielt, diese kleinen magnetischen Kugeln, die man zu verschiedenen Formen zusammenlegen kann. Ich sage nicht, ich habe mit Cenk Puzzle gelegt.
    Ich erzähle auf der Arbeit überhaupt nicht von Cenk. Aber manchmal von Esra. Oder ich erzähle, wie ich früher die Wochenenden verbracht habe. Zu Hause. Dann hören die Kollegen meist interessiert zu. So wie ich früher Menschen zugehört habe, die schon mal das Meer gesehen hatten.
    Als ich dann zum ersten Mal davor stand, hatte ich Angst. Ich wusste nicht, ob vor dem Wasser oder davor, dass diese Sehnsucht nun für immer verloren war. Zwei Jahre ist das nun her.
    Ich erzähle nie von Cenk, und nach dem Besuch von Herrn Olson werde ich das auch in Zukunft nicht tun. Obwohl mir das Erzählen vielleicht helfen könnte zu verstehen.
    Es war Mittwoch. Mittwochs schauen Esra und ich immer zusammen Muhteşem Yüzyıl , die Serie über das Leben Sultan Süleymans. Mindestens eine halbe Stunde, bevor sie beginnt, gehe ich hoch, wir trinken Tee und reden. Tee erinnert mich immer an Geselligkeit, ich trinke ihn nie allein. Wenn ich allein bin, trinke ich Kaffee. Ohne Milch und ohne Zucker, ich mag ihn so, aber er ist kein Getränk zum Zusammensein.
    An diesem Mittwoch war ich gerade erst von der Arbeit zurück, als Esra klingelte. Sie fragte mich, ob ich kurz hochkommen könne. Patrick sei da mit einem Mann, den sie nicht kenne. Patrick ist ein Schüler, er kommt zweimal die Woche und spielt mit Cenk, damit Cenk deutsch lernt. Esra zahlt vier Euro pro Stunde und so ein Club reicher Menschen zahlt auch vier Euro, und so bekommt Patrick acht.
    Als ich in Esras Küche kam, standen Patrick und der Mann auf und Patrick wollte mich vorstellen.
    - Frau Martyna ..., fing er an.
    - Martynazova, half ich ihm.
    - Frau Martynazova, das ist Herr Olson, unser Pate beim Rotary Club.
    Wir gaben uns die Hand.
    - Sehr erfreut, sagte Herr Olson.
    - Ich habe ihm erzählt von Cenk und er wollte sich sein eigenes Bild machen, sagte Patrick.
    - Frau Martynazova, sagte Herr Olson, während wir uns an den Küchentisch setzten, ich habe schon mit Frau Can über ihren Sohn gesprochen, aber ich bin mir nicht mich sicher, ob sie alles verstanden hat. Deshalb habe ich sie gefragt, ob sie jemanden kennt, der für sie übersetzen kann.
    Er sprach Esras Nachnamen Kan aus, nicht Dschan.
    Ich nickte. Mein Türkisch ist nicht besonders gut. Ich verstehe fast alles, vor allem seit ich in Deutschland bin und jeden Mittwoch gemeinsam mit Esra Muhteşem Yüzyıl gucke. Aber wenn ich sprechen muss, bin ich langsam, ich mache Fehler oder finde die richtigen Worte nicht.
    Während Herr Olson redete, nickte ich viel. Er klang ernst. Esra sah mich an und ihr nickte ich auch zu.
    - Ich werde mit ihr darüber sprechen, sagte ich schließlich.
    Nachdem Herr Olson und Patrick gegangen waren, fragte Esra mich:
    - Was wollen sie?
    Sie mussste es schon verstanden haben, aber sie wollte sich vergewissern.
    - Sie wollen mit Cenk zu einem ... ich weiß das Wort auf Türkisch nicht ... zu einem Kinderarzt für den Kopf ...
    - Psychologe, sagte Esra.
    Ich nickte.
    - Warum?
    - Weil er kein Deutsch spricht.
    Patrick kommt jetzt seit über einem Jahr, seit fünf Monaten geht Cenk in den Kindergarten, aber er sagt nicht mal ja oder nein auf Deutsch. Doch er versteht alles. Da bin ich mir sicher.
    - Sein Großvater hat gar nicht gesprochen, bis er fünf war, sagte Esra. Die Menschen haben schon geglaubt, er sei stumm. Und Cenk spricht ja. Kann der Psychologe denn Türkisch?
    - Es gibt einen in Dortmund, der Türkisch kann.
    - Dortmund, sagte sie.
    Ich nickte wieder. Was sollte ich sagen? Dass sie Patrick dafür bezahlt, dass Cenk Deutsch lernt? Dass das wichtig ist in diesem Land? Dass mein Deutsch mir bei der Wohnungssuche nicht viel geholfen hat, wahrscheinlich weil der Name wichtiger ist als die Sprache? Parizoda Martynazova. Da ist Cenk Can einfacher. Soll ich sagen, dass ich meinen Sohn auch nicht zu einem Psychologen schicken würde?
    Wir haben Tee getrunken und Muhteşem Yüzyıl geguckt. Es gibt eine Folge, in der man im Hintergrund ein Auto vorbeifahren sieht. Im 16. Jahrhundert. Es ist viel darüber gesprochen worden. Über den Erfindungsreichtum und die Macht der Osmanen. Über Fehler, die nicht passieren
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