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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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mit seiner Familie. Er brauchte nicht so verkniffen zu schauen. Er lächelte, aber ganz im reinen schien er mit sich nicht zu sein.
    Eine angenehme Wohnung. Hier hatte man in Harmonie gelebt.
    Jonas setzte sich auf die Couch und legte die Beine hoch.
    Im Stephansdom brannten nur noch wenige der Deckenlampen. Der Geruch nach Weihrauch hingegen war nicht mehr schwächer geworden. Jonas schritt die Gänge ab, warf einen Blick in die Sakristei, rief. Seine Stimme hallte an den Wänden wider. Starr blickten die Heiligenfiguren über ihn hinweg.
    Er merkte, daß er allmählich müde wurde. Er nahm eine Tablette.
    Er hatte Herzklopfen. Aufgeregt war er nicht, im Gegenteil, er fühlte eine entspannte Gleichgültigkeit. Das Herzklopfen kam von den Tabletten. Sie wirkten, er hatte den Eindruck, noch Tage auf den Beinen bleiben zu können, solange er regelmäßig die Pillen nahm. Der einzige Nachteil neben dem beschleunigten Herzschlag war das Gefühl, ihm würde der Kopf aufgepumpt, das er mal schwächer, mal stärker spürte.
    Er sah sich um. Graue Mauern. Knackende alte Bänke. Statuen.
    In der Brigittenauer Lände packte er die beiden Kameras ein. Einmal noch ging er durch die Wohnung. Alles, worauf sein Blick fiel, betrachtete er im Bewußtsein, daß er diesen Gegenstand nie wiedersehen würde.
    Ihm wurde ein wenig übel. Er schob es auf die Pillen.
    »Good-bye«, sagte er heiser.
    Tausende Male hatte er von seinem Fenster aus zum Kurier -Gebäude hinübergeschaut, betreten hatte er es jedoch nie. Er schlug die Tür ein. Im Kämmerchen des Portiers suchte er nach einem Hausplan. Den fand er nicht, wohl aber zwei Schlüsselbunde. Er steckte sie ein.
    Wie er vermutet hatte, lagerte ein Teil des Archivs hier im Keller, und zu seinem Glück war es der ältere. Zeitungen nach dem 1.1.1980 wurden außer Haus aufbewahrt.
    Reihe um Reihe schritt er ab. Er stellte Rolleitern beiseite und zog massive Eisenschubladen heraus, die einem Feuer mit Sicherheit eine Weile standhalten konnten. Viele Aufschriften an den Karteikästen waren vergilbt, und er mußte den Kasten herausziehen und eine Zeitung kontrollieren, um ihr Erscheinungsjahr festzustellen. Endlich stieß er auf die Abteilung, in der die Zeitungen aus seinem Geburtsjahr gelagert wurden. Er suchte den Monat. Öffnete den entsprechenden Kasten. Er nahm die Zeitung von seinem Geburtstag sowie jene vom Tag danach.
    »Dankeschön«, sagte er. »Gute Nacht!«
    In der Hollandstraße holte er Maries Koffer ab. Ursprünglich hatte er vorgehabt, gleich wieder zu verschwinden, aber als er die vertraute Umgebung sah, blieb er.
    Er ging umher. Berührte Gegenstände. Schloß die Augen, erinnerte sich. An seine Eltern. An seine Kindheit. Hier.
    Er ging ins Nebenzimmer, wo er die unausgeräumten Schachteln verstaut hatte. Er griff in eine jener, in denen Fotos lagerten, und zog eine Handvoll heraus. Auch die Spieluhr nahm er mit.
    Auf der Treppe fiel ihm die Truhe ein. Er stellte den Koffer ab und lief nach oben.
    Mit verschränkten Armen starrte er auf die Truhe. Sollte er eine Axt holen? Oder sollte er mit dem verwünschten Ding kurzen Prozeß machen und es in die Luft sprengen?
    Als er sie über den schmutzigen Speicherboden näher ans Licht rückte, glaubte er kurz ein Klappern zu hören. Er suchte alles ab. Fand nichts, was als Ursache des Geräusches in Frage kam.
    Er setzte sich auf die Truhe. Legte die Hände vors Gesicht.
    »Ah! Was bin ich dumm!«
    Er stellte die Truhe auf den Kopf. Die Unterseite war die Oberseite, hier war der Griff. Er klappte den Deckel auf. Die Truhe war nicht einmal verriegelt.
    Er sah Fotos, Hunderte Fotos. Dazu alte Holzteller, schmutzige Aquarelle ohne schützenden Rahmen, eine Garnitur Tabakpfeifen sowie ein Silberetui, das nichts enthielt. Was ihn elektrisierte, waren zwei Filmrollen. Bei diesem Anblick fiel sie ihm wieder ein. Die Super-8-Kamera, die Onkel Reinhard seinem Vater Ende der Siebziger geschenkt hatte. Einige Jahre war oft damit gefilmt worden, bei jedem ereignisreichen Anlaß, zu Weihnachten, beim Geburtstagsfest, beim Ausflug in die Wachau zum Weintrinken. Ohne die Kamera war sein Vater gar nicht mehr in Onkel Reinhards Auto gestiegen.
    Jonas nahm eine der Rollen in die Hand. Er war überzeugt, daß auf diesen Bändern Familienausflüge zu sehen waren. Ausflüge ins Weinviertel. Filme, die seine Mutter und seine Großmutter zeigten. Filme, die vor 1982 aufgenommen waren. In denen seine Großmutter in die Kamera redete, ohne daß ein Ton zu
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