Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
hören war, eben weil diese Kamera keine Töne aufgezeichnet hatte. Er war sicher, daß er solche Aufnahmen finden würde. Aber er wollte sich gar nicht mehr vergewissern.
    Er schob das Doppelbett auf den Rädern hinaus aus der Abholhalle des Möbelgeschäfts. In der Schweighoferstraße versetzte er ihm einen Stoß. Das Bett rollte hinunter in die Mariahilfer Straße, wo es mit sattem Klang gegen einen geparkten Wagen prallte. Mit dem Fuß stieß er es weiter in Richtung Ringstraße. Kurz vor dem Museumsplatz, als es bergab ging, schob er das Bett an wie einen Bob und sprang, als es Fahrt aufgenommen hatte, hinauf. Er erhob sich. Er stand. Auf einem Doppelbett mit Rollen surfte er durch die Babenberger Straße bis zum Burgring. Es war nicht ganz einfach, das Gleichgewicht zu halten.
    Das Bett stellte er auf dem Heldenplatz auf, etwas entfernt von der Stelle, an der er vor anderthalb Monaten den Hilferuf auf den Boden gemalt hatte. Mit dem Vorsatz, ihn zu löschen, ging er hin. Die Arbeit war ihm vom Regen schon abgenommen worden. Ein heller Fleck zeigte gerade noch den Ort an, an dem die Buchstaben gestanden hatten.
    Im Lkw transportierte er heran, was er in dieser Nacht für unverzichtbar hielt. In einem Kreis, fünf Meter vom Bett entfernt, stellte er einige Fackeln auf. An das Fußende rückte er zwei Fernseher. Er verband sie mit den Kameras, mit denen er am Vormittag in der Brigittenauer Lände gefilmt hatte, und schloß sie an den Stromakku an. Zur Sicherheit kontrollierte er die Leistung. Mit dem Speicher war alles in Ordnung. In dieser Nacht jedenfalls würde es zu keinem Ausfall kommen.
    Auf dem gesamten Platz verteilte er ohne Ordnung Scheinwerfer, die er nach oben richtete. Er wollte nicht direkt bestrahlt werden. Bald schlängelten sich so viele Kabel durch die Wiese und über den Betonboden, daß er alle paar Meter strauchelte. Zumal es allmählich dunkel wurde.
    Er stellte Maries Koffer neben das Bett. Die Fotos, die er aus der Hollandstraße mitgebracht hatte, klemmte er wie die Zeitungen in eine Seitentasche, damit sie der Wind nicht wegblasen konnte. Er warf das Kissen und die Decke hin, die er aus der Koje im Lkw mitgenommen hatte. Die Scheinwerfer tauchten den Platz in unwirkliches Licht. Es war, als stehe er in einem verwunschenen Park.
    Dort war die Hofburg, da das Burgtor. Dahinter säumten Bäume die Ringstraße. Rechts ragte ein Denkmal auf. Zwei Basilisken, Kopf an Kopf, Knie an Knie, kämpften und drückten. Aber es sah auch aus, als stützten sie einander.
    In der Mitte des Platzes sein Bett. Er fühlte sich wie in einer Filmkulisse. Sogar der Himmel wirkte unecht. In diesem orangenen Halblicht schien alles zwei Seiten zu haben. Die Bäume, die Gitter an den Toren, die Hofburg selbst, alles war natürlich und echt und zugleich von erbarmungsloser Glattheit.
    Er steckte die Fackeln an und startete die Videos. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, legte er sich aufs Bett und blickte in den orange gefärbten Nachthimmel hoch.
    Hier lag er nun.
    Unbedrängt vom Wolfsvieh.
    Von Gespenstern.
    Unbedrängt.
    Nur um ganz sicherzugehen, schluckte er noch eine Tablette, immerhin lag er auf einem Bett. Er betrachtete das Bild in den Fernsehern. Im einen das einer Kamera, an der ein rotes Licht blinkte, im Hintergrund ein Ausschnitt des Bettes, in dem er jahrelang geschlafen hatte. Im zweiten ein Stück Kommode und darüber eine Stickerei.
    Vom roten Blinken abgesehen, waren beide Bilder starr.
    Es war still auf dem Platz. Ab und zu übertönte ein Windstoß, der in die Bäume fuhr, das Summen der Kameras.
    Gleich das erste Foto zeigte ihn als Junge, zusammen mit seinem Vater, dessen Kopf natürlich zur Hälfte fehlte. Den linken Arm hatte der Vater über Jonas’ Schultern gelegt, mit der rechten Hand hielt er seine Handgelenke gepackt, als ob sie sich balgten. Jonas hatte den Mund geöffnet, als kreischte er.
    Diese Hände, die Hände seines Vaters. Große Hände. Er erinnerte sich an sie. Oft hatte er sich in sie hineingeschmiegt. Große, rauhe Hände.
    Er erinnerte sich. Er fühlte die Rauheit der Haut, der Kraft der Muskeln. Sogar den Geruch des Vaters nahm er für einen Moment wahr.
    Diese Hände da auf dem Foto. Es hatte sie gegeben. Wo waren sie jetzt?
    Das Bild, das er hier sah, war nicht nur einfach ein Foto, das seine Mutter aufgenommen hatte. Was er hier sah, war das, was seine Mutter in der Sekunde der Aufnahme gesehen hatte. Er blickte mit den Augen seiner Mutter. Er sah, was ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher