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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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begegnete, in sich aufnehmen zu können.
    Ein Leben. Man war nur ein oder zwei oder drei Jahre derselbe, dann hatte man mit der früheren Persönlichkeit, mit der vor vier Jahren, immer weniger gemein. Es war wie auf einem Seil hoch oben in der Luft oder wie auf einer Hängebrücke. Wo man gerade ging, bog sich das Seil durch, da lastete das Hauptgewicht. Einen Schritt davor und danach bog es sich schon weniger durch. Und in einiger Entfernung war die Wirkung des Gewichts auf das Seil nur noch schwach zu sehen. Das war die Zeit, das war die Persönlichkeit in der Zeit. Er hatte einmal Briefe gefunden, die er zehn Jahre zuvor einer Freundin geschrieben, aber nie abgeschickt hatte. Der da schrieb, war ein ganz anderer. Eine andere Persönlichkeit. Nicht ein anderes Ich. Denn das blieb zu allen Zeiten gleich.
    Er sah Maries Gesicht vor sich. Es wurde größer und größer, bis es sich über ihn legte, über seinen Kopf breitete, in ihn hineinschlüpfte. Fiel er schon? Fiel er?
    Das Dröhnen in ihm schien flüssig zu werden. Er roch und schmeckte die Nähe eines Geräusches. Er sah ein Buch vor sich, es kam auf ihn zu. Drang in ihn ein. Er nahm es auf.
    Ein Buch. Wurde geschrieben, wurde gedruckt. Wurde in die Buchhandlung gebracht. Wurde ins Regal gestellt. Wurde von Zeit zu Zeit herausgezogen und betrachtet. Nach einigen Wochen zwischen anderen Büchern, zwischen James und Marcel oder zwischen Emma und Virginia, wurde es gekauft. Vom Käufer nach Hause getragen. Gelesen und ins Regal gestellt. Und dort stand es dann. Vielleicht wurde es nach Jahren ein zweites und drittes Mal gelesen. Doch es stand, stand im Regal. Fünf Jahre, zehn Jahre, zwölf, fünfzehn. Dann wurde es verschenkt oder verkauft. Kam in andere Hände. Wurde einmal gelesen und wieder ins Regal geschoben. Stand da tagsüber, wenn es hell war, und abends, wenn die Lichter ausgingen, und nachts im Dunkeln. Und wenn der nächste Tag anbrach, stand es noch immer im Regal. Fünf Jahre. Dreißig Jahre. Und wurde wieder verkauft. Oder verschenkt. Das war es. Ein Buch. Ein Leben im Regal, Leben in sich bergend.
    Er fiel. Und schien sich doch nicht zu bewegen.
    Er hatte nicht gewußt, daß Zeit so zäh war.
    Ihm war, als würden rings um ihn Hunderte Helikopter starten. Er wollte sich an den Kopf fassen, doch er konnte die Bewegung seiner Hand nicht sehen, so langsam war sie.
    Alt zu sterben oder jung. Er hatte sich oft gedacht, welche Tragik in einem frühen Tod lag. Doch in gewisser Weise wurde diese Tragik gemindert, je mehr Zeit verging. Zwei Männer, geboren um 1900. Der eine fiel im Ersten Weltkrieg. Der andere lebte weiter, wurde zwanzig, dreißig, fünfzig, achtzig. Im Jahr 2000 war auch er tot. Und dann spielte es keine Rolle mehr, daß der Ältere viele Sommer mehr gesehen hatte als der jung Gestorbene, daß er dies und jenes erlebt hatte, das dem Jungen nicht widerfahren war, weil diesen eine russische oder französische oder deutsche Kugel getroffen hatte. Denn nun galt nichts mehr davon. All die Frühlingstage, die Sonnenaufgänge, die Feste, die Liebschaften, die Winterlandschaften, sie waren weg. Alles war weg.
    Zwei Menschen, beide geboren 1755. Der eine gestorben 1790, der andere 1832. Zweiundvierzig Jahre Unterschied. Damals viel. Zweihundert Jahre später Statistik. Alles weit weg. Alles klein.
    In ihm, um ihn Heulen. Starres Heulen.
    Er sah einen Baum auf sich zufliegen. Er nahm den Baum auf. Er kannte den Baum.
    In der Erde wurde Atommüll gelagert. Radioaktive Stäbe steckten an vielen Orten der Welt in der Erde. Sie würden lange strahlen, zweiunddreißigtausend Jahre. Er hatte sich oft ausgemalt, was die Menschen in sechzehntausend Jahren über die Verursacher dieses Problems sagen würden. Sie würden denken, damals, vor sechzehntausend Jahren, hatten Menschen gelebt, die nicht verstanden, was Zeit war. Zweiunddreißigtausend Jahre. Tausend Generationen. Jede einzelne würde tüfteln und arbeiten und bezahlen für das, was zwei oder drei oder zehn Generationen für ihren kurzfristigen Vorteil angerichtet hatten. Zeit war kein Nacheinander, Zeit war ein Nebeneinander. Generationen waren Nachbarn. In tausend Jahren würden alle Hausbewohner über den geistig zurückgebliebenen Rowdy im Keller schimpfen, der ihnen das Leben vergällte.
    So hatte Jonas gedacht. Doch zu alldem würde es nun nicht kommen. Die Stäbe würden weiterstrahlen, und eines Tages würden sie erlöschen, und es würde dennoch erst seit einem Fingerschnippen Stille auf
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