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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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vorkam.
    Er rollte die DS in den Laderaum. Als er sie an die Stange ketten wollte, schien der Boden unter seinen Füßen zu schwanken. Gleichzeitig hörte er ein Klirren.
    Mit einem Satz stand er unten auf der Erde. Hier fühlte er das Schwanken noch stärker. Ihm wurde schwindlig. Er legte sich hin.
    Ein Erdbeben.
    Gerade als er dies dachte, war es auch schon wieder vorbei. Dennoch verharrte er, alle viere von sich gestreckt, auf dem Boden. Minutenlang wartete er.
    Ein Erdbeben. Ein leichtes nur. Aber ein Erdbeben in einer Welt, in der nur ein Mensch existierte, regte diesen zum Nachdenken an. War es ein gewöhnliches Naturereignis, das einem Prozeß folgte, der noch in Jahrmillionen nicht abgeschlossen sein würde? Der Verschiebung der Kontinentalplatten nämlich? Oder war es eine Botschaft?
    Nachdem er zehn Minuten auf dem nackten Boden gelegen und seine Kleidung in der Wiese wieder feucht geworden war, wagte er sich zurück in den Lkw. Sogleich ließ er die Heckklappe emporsummen. Er drehte alle Lichter an. Er zog die nassen Sachen aus. Einem Schrank entnahm er Hosen und Schuhe.
    Während er sich umzog, ging ihm durch den Kopf, was vor Jahren über ein anderes Beben berichtet worden war. Nicht auf der Erde hatte es stattgefunden, sondern auf der Sonne. Seine Stärke war mit 12 nach Richter angegeben worden. Das stärkste auf der Erde je gemessene Beben hatte 9,5 erreicht. Weil sich unter Stärke 12 trotzdem niemand etwas vorstellen konnte, hatten die Wissenschaftler hinzugefügt, das Sonnenbeben sei vergleichbar mit jenem, das entstünde, wenn man alle Kontinente der Erde einen Meter hoch mit Dynamit bedeckte und diesen Sprengstoff zur gleichen Zeit zur Explosion brachte.
    Einen Meter hoch Dynamit. Weltweit. Gleichzeitig explodiert. Das war Stärke 12. Es klang gewaltig. Aber wer konnte sich schon wirklich ausmalen, welche Verwüstungen die Explosion von knapp 150 Millionen Kubikkilometern Dynamit anrichtete?
    Er hatte sich dieses Beben vorgestellt, auf der Sonne. Niemand war dagewesen, es mitzuerleben. Die Sonne hatte für sich allein gebebt. Mit Stärke 12. Ohne ihn. Ohne alle. Niemand hatte dieses Beben gesehen, ebenso wie niemand den Roboter auf dem Mars hatte landen sehen. Passiert war es dennoch. Die Sonne hatte gebebt, der Marsroboter war zur Oberfläche des Planeten geschwebt. Es war geschehen. Hatte andere Dinge beeinflußt.
    Bei Metz holte er im Morgengrauen die erste Kamera ab. Frohlockend überzeugte er sich, daß es nicht geregnet hatte und das Gerät funktionierte. Er spulte zurück. Aufgenommen schien es zu haben. Am liebsten hätte er sich das Band gleich angesehen, doch dazu war keine Zeit.
    Obwohl seine Augen immer stärker brannten, fuhr er weiter. Auf eine weitere Tablette verzichtete er einstweilen. Er war nicht müde, es waren mechanische Probleme, mit denen sein Körper kämpfte. Die Augen. Die Gelenke. Es war, als habe man ihm das Mark aus den Knochen gezapft. Er schluckte eine Parkemed.
    Er starrte auf das graue Band vor sich. Das war er, Jonas. Hier auf der Autobahn unterwegs nach Wien. Nach Hause. Mit Maries Koffer. Mit Rätseln.
    Seine Eltern fielen ihm ein. Ob sie ihn jetzt sahen? Ob sie traurig waren?
    Ihm war es stets so ergangen, wenn er jemanden hatte leiden sehen: Er hatte an die Eltern des Betreffenden gedacht. Sich vorgestellt, was sie fühlen würden, wenn sie ihr Kind so sahen.
    Wenn er eine Putzfrau bei der Arbeit beobachtete, fragte er sich, ob sich ihre Mutter grämte, weil die Tochter einer so niederen Tätigkeit nachgehen mußte. Oder wenn er die schmutzigen, löchrigen Strümpfe eines Stadtstreichers sah, der auf einer Bank seinen Rausch ausschlief. Auch der hatte eine Mutter, einen Vater gehabt, und beide hatten sich die Zukunft ihres Sohnes mit Sicherheit anders erträumt. Oder der Arbeiter, der mit dem Preßlufthammer auf der Straße den Asphalt aufbrach. Oder eine schüchterne junge Frau, die ängstlich im Warteraum eines Arztes saß und auf die Diagnose wartete. Die Eltern waren nicht dabei. Aber könnten sie sehen, wie es ihrem Kind erging, müßte es sie doch vor Mitgefühl zerreißen. Es handelte sich um einen Teil von ihnen. Um den Menschen, den sie aufgezogen hatten, dem sie die Windeln gewechselt, den sie zu sprechen und zu gehen gelehrt, mit dem sie Kinderkrankheiten durchgestanden, den sie zur Schule begleitet hatten. Dessen Leben sie vom ersten Tag an mitgeführt hatten und den sie liebten von der ersten bis zur letzten Sekunde. Dieser Mensch war nun in
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