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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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Seelenfeuer
     
     
    Arles, August 1888
     
    A
    ls ich mich um Mitternacht zu Fuß auf den Weg zum Amphitheater mache, hängt noch immer die Hitze des Tages in der Luft. Ich, die ein solches Wetter in einem Landstrich, der normalerweise im Licht der mediterranen Sonne schläft, nicht gewöhnt bin , habe die meiste Zeit damit verbracht, dem Abend und meinem Vorhaben entgegenzufiebern, das so vieles entscheiden wird.
    Die Dunkelheit macht mir nichts aus, im Gegenteil, sie ve r leiht meinen Schritten eine Sicherheit, die sie tagsüber nicht haben. Ich fühle mich weniger beobachtet, und an den Kö r perstellen, die sonst schweißverklebt sind, spüre ich nun nur angenehme Trockenheit. Eine Brise stellt meine Nackenhaare auf und ich lausche, doch die Nacht tut mir nicht den Gefa l len, mir ihre Geheimnisse anzuvertrauen.
    Ich denke wieder an meinen Bruder Willem, an seinen Z u stand und daran, dass das Glück der gesamten Familie von meinem Plan abhängt. Costantini gilt als Geschäftemacher, als habgieriger Halsabschneider, doch es heißt auch, er sei einer der fähigsten Mediziner und Alchimisten Frankreichs. Er hat sich bereit erklärt , mir eine Medizin zuzubereiten, um meinem Bruder zu helfen – allerdings zu einem Preis, den ich nicht b e zahlen kann. Ich habe zugestimmt, erscheint es mir doch als der einzige Ausweg. Das wenige Geld, das ich besitze, trage ich in einem kleinen Lederbeutel an meinem Gürtel bei mir. Ich hoffe, dass Costantini mir das Medikament auch zu einem geringeren als dem vereinbarten Preis überlassen wird, denn er hat es speziell für meinen Bruder gemischt und kann es ve r mutlich nicht anderweitig verwenden.
    Als ich in die nächste Gasse einbiege, taucht das Amphithe a ter vor mir auf. Der helle Stein der römischen Ruine scheint trotz der Dunkelheit aus sich selbst heraus zu leuchten. Je n ä her ich dem Ende der Gasse komme, desto höher wächst die Ruine aus dem gepflasterten Boden. Als ich schließlich aus der Gasse trete, weitet sich das Bauwerk zu den Seiten aus, als hä t te jemand einen Vorhang beiseitegezogen .
    In der Luft liegt der Geruch von Staub, Urin und Lavendel. An vielen Türen hängen Bündel von Blüten, die die Hausb e wohner gegen die schlechten Gerüche angebracht haben. Ich steige die Stufen zum Amphitheater hinauf und betrete es durch einen der weißen Steinbögen.
    Es ist ein magischer Ort, dem, obwohl er im Laufe der Jah r hunderte den zerstörerischen Kräften der Zeit ausgeliefert war, das Gewühl der Menschen nichts anhaben konnte. Er hat schon existiert, als die Römer noch große Teile Europas b e herrschten – ein Schauplatz blutiger Kampfspiele, deren Übe r reste bis heute in Form des Stierkampfs erhalten geblieben sind, der noch immer hier stattfindet –, hat Kriege und Natu r katastrophen überdauert und wird auch in Zukunft existieren, wenn von mir und meiner Familie nichts mehr übrig ist.
    Der Gedanke hat etwas Tröstliches.
    Plötzlich bekomme ich das Gefühl, dass die Dunkelheit dichter wird, je weiter ich ins Innere des Theaters vordringe. Ich bereue es, nicht an eine Laterne gedacht zu haben – es wird einen hilflosen und unbedachten Eindruck auf Costantini machen.
    Das verwitterte Bauwerk ist im Laufe der Zeit zum Heim von Tauben und Eidechsen geworden. Gras wuchert aus j e dem noch so engen Spalt, Efeu klettert in dicken Büscheln über die schmutzigen Wände. Kaum eine verwitterte Stelle im Stein, die nicht von belaubten Ranken überwuchert ist; kaum eine Aushöhlung, in der sich kein Nest befindet, aus dem le i ses Gurren ertönt. Irgendwo ruft ein Käuzchen .
    Willem hat mir schwärmerisch von der Schönheit der Natur erzählt. Das ist viele Jahre her, ich war noch ein kleines Mä d chen und den Worten meines Bruders gänzlich ausge liefert. Er ist ein Freund der Nacht, mein Bruder – er schwärmt so sehr für das Licht der Sterne und des Mondes, wie er die brennende mediterrane Sonne und die Farben liebt, die sie der südfranz ö sischen Landschaft entlockt. Er ist ein weitaus besserer Mensch als ich, denn er liebt die ganze Welt und alle Me n schen darin – ohne Vorbehalte, ohne Ausnahmen.
    Er hat nicht verdient, was nun mit ihm geschieht.
    Das Licht einer Gaslaterne, das plötzlich ein paar Meter vor mir aufleuchtet, reißt mich aus meinen Gedanken. Ich wage nicht, zu atmen oder zu sprechen, aus Angst, nicht Costantini, sondern jemand anderen hier vorzufinden. Jemanden, dem ich nicht begegnen will. Ich bewege mich nicht, warte auf
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