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Äon

Äon

Titel: Äon
Autoren: Greg Bear
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Prolog
VIER ANFÄNGE
     
EINS
Heiliger Abend 2000
New York City
     
    »Es geht in eine weite, elliptische Erdumlaufbahn«, sagte Judith Hoffman. »Größte Erdnähe zirka zehntausend Kilometer, größte Erdferne zirka fünfhunderttausend. Es wird bei jeder dritten Umkreisung eine Kurve um den Mond machen.« Sie beugte sich zurück und gab den Blick auf den Video-Bildschirm für Garry Lanier frei. Vorerst glich der Stein einer gebackenen Kartoffel mit wenig sinnvollen Details.
    Außerhalb der Bürotür erinnerte der gedämpfte Partylärm an die vernachlässigten sozialen Verpflichtungen.
    »Ein unwahrscheinlicher Zufallstreffer.«
    »Das ist kein Zufallstreffer«, sagte Hoffman. Sie hatte ihn vor wenigen Minuten in ihr Büro geholt. Lanier saß auf der Kante ihres Schreibtisches. Er war groß und hatte kurzes, dichtes, schwarzes Haar, womit er wie ein hellhäutiger amerikanisch-indianischer Mischling wirkte, obwohl in ihm kein Indianerblut floß. Hoffman empfand seine Augen als besonders beruhigend; er hatte den Späherblick eines Mannes, der es gewohnt ist, in die Ferne zu schauen. Allerdings faßte sie nicht aufgrund des Aussehens zu Leuten Vertrauen.
    Sie hatte sich an Lanier gewandt, weil sie von ihm etwas gelernt hatte. Manche bezeichneten ihn als herzlos, aber Hoffman wußte es besser. Der Mann war einfach kompetent, gelassen und aufmerksam.
    Für die Schwächen in anderen war er gewissermaßen blind, was ihn zu einem besonders tüchtigen Manager machte. Belanglose Beleidigungen, Gemeinheiten oder Verleumdungen schien er kaum wahrzunehmen. Er betrachtete Menschen nur dahingehend, ob sie effektiv waren oder nicht, was zumindest seine öffentlichen Reaktionen zeigten. Er durchdrang die Schlacke an der Oberfläche und fand, was an echtem Gold darunter verborgen lag. Hoffman hatte einiges Interessante über verschiedene Leute gelernt, indem sie deren Reaktion auf Lanier beobachtete. Und sie hatte am eigenen Stil gearbeitet, indem sie von seiner Finesse dazulernte.
    Lanier war bisher noch nie in Hoffmans privatem Arbeitsbereich gewesen. Im kalten Licht des Videos betrachtete er nun die Regale mit den Memoblöcken, den breiten, leeren Schreibtisch mit dem Sekretärinnenstuhl, den kompakten Wortprozessor unter dem Video.
    Wie die meisten Partygäste hatte Lanier ein wenig Respekt vor Hoffman. Auf dem Kapitolshügel hieß sie Beraterin. In offiziellen und inoffiziellen Funktionen war sie als Wissenschaftsexperte für drei Präsidenten tätig gewesen. Ihre Videoprogramme, die das Interesse an und die Beschäftigung mit der Wissenschaft wiederbelebten, waren populär in den späten 1990er Jahren – in einer Welt, die sich gerade vom Schock des Kleinen Tods erholte. Sie saß im Vorstand des Jet Propulsion Laboratory und nun im Vorstand des International Space Cooperation Committee ISCCOM, des Komitees für internationale Zusammenarbeit im Weltraum. An ihrem Geschmack für Kleidung war nichts auszusetzen, obwohl sie ihren robusten Körperbau nicht verbergen konnte. Ihre Aufmachung hielt sich bewußt in Grenzen; ihre Fingernägel waren kurz und unlackiert, gepflegt und unauffällig; mit Make-up ging sie sparsam um. Das brünette Haar durfte sich ohne große Manipulation legen, wie es wollte, und bildete einen Nimbus feiner Locken ums Haupt.
    Lanier war bei seiner Tätigkeit als PR-Manager von AT&T Orbicom Services zu ihrem Kreis gestoßen. Vor seiner Stelle bei Orbicom war er sechs Jahre bei der Marine gewesen – zuerst als Kampfpilot, dann als Pilot hochfliegender Tankflugzeuge. Er hatte beim kleinen Tod die berühmte Charlie Baker Delta Route über Florida, Kuba und Bermuda geflogen und die Maschinen der Atlantikwache betankt, deren Achtsamkeit eine so entscheidende Rolle in der Begrenzung des Krieges spielte.
    Nach dem Waffenstillstand erhielt er von der Marine die Erlaubnis, sein Können in der Luft- und Raumfahrt in den Dienst von Orbicom zu stellen, das seinem zivilen Mononet weltweit auf die Beine helfen wollte.
    Zunächst wurde er einige Male in die Orbicom-Zentrale im kalifornischen Menlo Park gerufen, dann sollte er bei der Erstellung von Positionspapieren helfen, dann wurde er plötzlich und unerwartet ins Orbicom-Haus nach Washington versetzt, was – wie er später erfuhr – von Hoffman veranlaßt worden war. Von einer Romanze – wie oft hatte er dieses Gerücht schon zerstreut? – konnte keine Rede sein. Aber ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit war erstaunlich in dieser Washingtoner Atmosphäre
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