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Die Filmerzaehlerin

Die Filmerzaehlerin

Titel: Die Filmerzaehlerin
Autoren: Hernán Rivera Letelier
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Die Filmerzählerin

    Für Claudio Labarca, den Bären,
    der einen Filmerzähler als Vetter hatte.
    »Wir sind vom Stoff, aus dem die Träume sind.«
    William Shakespeare

    »Wir sind vom Stoff, aus dem die Filme sind.«
    Fee Delcine
    1
    Weil daheim das Geld zu Pferd unterwegs war und wir zu Fuß, kratzten wir, wenn in der Siedlung ein Film gezeigt wurde, den mein Vater (nur wegen des Hauptdarstellers oder der Hauptdarstellerin) für sehenswert hielt, unsere Münzen zusammen, bis es für eine Eintrittskarte reichte, und ich wurde hingeschickt, um den Film anzuschauen.
    Wenn ich dann aus dem Kino kam, musste ich ihn im Garniturzimmer der vollzählig versammelten Familie erzählen.
    2
    Es war schön, wenn nach dem Film mein Vater und meine Brüder zu Hause gespannt auf mich warteten, in einer Reihe wie im Kino, frisch umgezogen und gekämmt.
    Mein Vater saß mit einer bolivianischen Decke über den Knien in unserem einzigen Sessel, und der war das Kinoparkett. Auf dem Boden neben dem Sessel glitzerten seine Flasche Rotwein und das einzige Glas, das noch im Haus war. Der erste Rang war die grob gezimmerte Holzbank, auf der meine Brüder Platz nahmen, ordentlich sortiert von klein nach groß. Als dann später einige ihrer Freunde im Fenster lehnten, wurde das die Loge.
    Ich kam aus dem Kino, trank rasch eine Tasse Tee, der schon für mich bereitstand, und begann meine Vorstellung. Im Stehen vor der gekalkten Wand, die weiß war wie die Kinoleinwand, machte ich mich daran, ihnen den Film »von A bis Z« zu erzählen, wie mein Vater es wünschte, gab mir Mühe, keine Einzelheit auszulassen, kein Detail der Handlung, der Dialoge, der Figuren.
    Und nicht dass jemand denkt, sie hätten mich ins Kino geschickt, weil ich die einzige Frau der Familie war und sie (mein Vater und meine Brüder) so galant gegen die Damenwelt gewesen wären. Von wegen. Mich schickten sie, weil ich besser Filme erzählte als sie alle. Ja, genau, Sie haben sich nicht verhört: Die beste Filmerzählerin der Familie. Später dann die beste in der Häuserreihe und kurz darauf die beste im ganzen Minendorf. Meines Wissens gab es niemand in der Siedlung, der es im Filmerzählen mit mir aufgenommen hätte. Und egal, was für welche: mit Cowboys, Horror, Krieg, Marsmenschen oder Liebe. Und natürlich die mexikanischen, die mein Papa, als echter Mann aus dem Süden, am liebsten mochte.
    Und es war auch ein mexikanischer, einer mit reichlich Liedern und Tränen, mit dem ich den Titel errang. Den Titel musste man nämlich erringen.
    Oder glauben Sie, man hätte mich wegen meiner guten Figur ausgesucht?
    3
    Zu Hause waren wir fünf Geschwister. Vier Jungs und ich. Nach Alter und Größe die perfekten Orgelpfeifen. Ich war die Jüngste. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man daheim mit lauter Brüdern aufwächst? Ich habe nie mit Puppen gespielt. Dafür war ich beim Klickern und Holzstockkegeln ungeschlagen. Und bei der Eidechsenjagd in den Salpeterfeldern war niemand schneller als ich. Ein Blick von mir, zack, Eidechse platt.
    Ich lief Gottes langen Tag barfuß herum, rauchte heimlich, trug eine Schiebermütze und lernte, wie man im Stehen pinkelt.
    Man pinkelt im Stehen, man macht Pipi im Sitzen.
    Und ich tat, was meine Brüder taten, und zwar überall draußen. Manchmal schlug ich sie beim Weitpinkeln um mehr als eine Handspanne. Gegen den Wind wohlgemerkt.
    Mit sieben wurde ich eingeschult. Jetzt musste ich nicht nur Röcke tragen, sondern mich auch daran gewöhnen, wie ein Fräulein Pipi zu machen.
    Lesenlernen war leichter.
    4
    Als mein Vater auf die Idee mit dem Wettbewerb kam, war ich zehn Jahre alt und in der dritten Klasse Grundschule. Seine Idee bestand darin, uns nacheinander ins Kino zu schicken und uns dann den Film erzählen zu lassen. Wer ihn am besten erzählte, würde jedes Mal gehen dürfen, wenn ein guter Film lief. Oder ein mexikanischer. Der mexikanische konnte gut oder schlecht sein, das war meinem Vater egal. Und natürlich musste das Geld für die Eintrittskarte vorhanden sein.
    Die Übrigen würden sich damit begnügen, dass sie den Film nachher zu Hause erzählt bekamen.
    Uns allen gefiel die Idee. Wir fühlten uns alle imstande zu gewinnen. Nicht von ungefähr, schließlich ahmten wir, wenn wir aus dem Kino kamen, genau wie die anderen Kinder in der Siedlung die Filmhelden in ihren besten Szenen nach. Meine Brüder konnten perfekt den o-beinigen Gang und schrägen Blick von John Wayne imitieren, Humphrey Bogarts
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