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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle
Autoren: Batya Gur
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1. Kapitel

    Jedes Mal, wenn man nachprüft, ob die Leute wirklich das meinen, was sie sagen, sieht man, es ist nicht so. Stellt man sie auf die Probe, versagen sie immer. Wenn sie zum Beispiel von einem Jungen sagen, er sei ein ausgezeichneter Basketballspieler, und sie schicken ihn extra in einen besonderen Trainingskurs, um sein Talent zu fördern (so nennt es Rachel, unsere Schuldirektorin), warum ärgern sie sich dann, wenn er die ganze Zeit nur noch Basketball spielen möchte? Und, nur mal angenommen, man verlangt von einem Jungen ständig, dass er da was hinmalt oder dort was zeichnet, und schließlich wird er sogar Vorsitzender der Deko-AG der Schule und am Elternsprechtag sagen die Lehrer zu seinen Eltern, wie wunderbar er malt, warum wird er dann zur Strafe aus der Klasse geschickt, nur weil er nicht aufhören kann zu malen? Mi-chal, unsere Klassenlehrerin, sagt, das sei eine Frage des Maßes. »Alles mit Maßen, Schabi«, hat sie zu mir gesagt. Und ihre roten Augenbrauen haben sich über ihrer Nasenwurzel fast getroffen und sie hat eine Falte zwischen den Augen bekommen.
    Diese Augenbrauen zeichnete ich mit dem roten Stift, den Benji mir im Winter zu meiner Bar Mizwa geschenkt hatte, zusammen mit einem ganzen Set von Stiften in allen möglichen Farben. Die Stifte und Kreiden befinden sich in einer schwarzen, glänzenden Schatulle aus Holz, die mit roten Blumen bemalt ist. Anfangs hatte ich Angst, die Schatulle überhaupt von zu Hause mitzunehmen, aber nach einem Monat steckte ich sie schon in meine Schultasche und jetzt habe ich sie immer im Unterricht dabei. Man weiß ja nie, wann man eine Möglichkeit zum Zeichnen hat – zum Beispiel in der Englischstunde.
    Noch bevor Benji mir die Schatulle schenkte, der man sofort ansieht, wie teuer sie ist, wusste ich schon, dass ich ihm – wie soll ich es sagen – wichtig bin. Und als ich meiner Mutter die Schatulle zeigte und ihr sagte, die sei sogar extra für mich in Amerika bestellt worden, meinte sie: »Benji hängt sehr an dir. Schau nur, wie gern er dich hat.« Aber das ist für niemanden ein Geheimnis: Jeden Morgen wartet Benji am Schultor auf mich, damit wir zusammen hineingehen, und in der großen Pause steht er im ersten Stock an der Treppe, nicht weit von den 8. Klassen, und wartet für den Fall, dass ich zufällig Zeit für ihn habe und er mit mir gehen kann. Er ist im Stande, die halbe Pause mit Warten zu vergeuden. Schon seit einem Jahr geht das so, deshalb hab ich auch nicht verstanden, warum er vor mir floh. Denn das tat er, er floh. Ich rief ihn, nachdem mich der Englischlehrer aus der Klasse geworfen hatte, und Benji, der vielleicht schon die ganze Stunde dort gestanden hatte, floh.
    Ich stand im Flur, sah ihn weglaufen und verstand gar nichts mehr. Ich kapierte einfach nicht. Dieser Junge hat in der ganzen Schule keinen Freund, vielleicht auf der ganzen Welt nicht, und sonst benimmt er sich immer, als wär ich sein großer Bruder, manchmal sogar, als wäre ich sein Vater, warum sollte er aber plötzlich vor mir davonlaufen? Ich verstand es nicht. Benji war vor drei Jahren aus Amerika gekommen, damals ging er in die erste Klasse. Sein Hebräisch ist noch immer nicht so, wie es sein sollte. Deshalb bin ich sein »Tutor« geworden. Fast jeden Tag verbringt er ein bisschen Zeit mit mir und ich helfe ihm bei den Hausaufgaben und manchmal ist er sogar den ganzen Nachmittag mit mir zusammen. Er war auch schon oft bei mir zu Hause, aber noch häufiger gehe ich zu ihm. Sie haben ein großes Haus und seine Eltern sind fast nie da. Das heißt, sein Vater ist die ganze Zeit beruflich unterwegs und seine Mutter ist Malerin, sie arbeitet oben im zweiten Stock und hat uns kein einziges Mal gestört.
    Wegen der Schwierigkeiten mit meinem Vater mag ich keine Freunde nach Hause bringen. Ich will nicht, dass sie ihn sehen, wie er in seinem Sessel sitzt, mit glasigen Augen vor sich hin starrt und nur raucht und nichts sagt. Ich will nicht, dass mich jemand fragt, was mit ihm los ist, denn dann müsste ich von dem Unglück erzählen und wie er vorher war und nachher. Aber Benji habe ich mit nach Hause genommen, vielleicht weil er so allein ist und sich für dick hält – er ist tatsächlich ziemlich dick – und weil alle über ihn lachen. Auch Uri, der schon seit dem Kindergarten mein Freund ist und in der Nachbarschaft wohnt, kommt zu mir nach Hause. Aber er ist wirklich mein ältester Freund und kennt meinen Vater noch aus der Zeit vor dem Unglück. Ihm brauche
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