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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle
Autoren: Batya Gur
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ich nichts zu erklären.
    Jemand, der uns beobachtet und sieht, wie Benji auf mich wartet und mir überallhin nachläuft, könnte glauben, er wär eine Zecke. Aber ich sehe ihn nicht so. Benji hat große, blaue Augen, und wenn er mich anschaut, kann jeder sehen, was er sich von mir wünscht, nämlich dass ich mich so benehme, als wär ich sein großer Bruder. Deshalb denke ich auch an ihn wie an einen kleinen Bruder, um den man sich kümmern muss. Manchmal sogar wie an einen kleinen Hund, für den niemand außer mir sorgt. Trotzdem ist er vor mir geflohen. Genau in dem Moment, als ich aus der Klasse kam, fing er an zu rennen.

    In der Englischstunde überarbeitete ich noch einmal die Augenbrauen von Michal, unserer Klassenlehrerin, die bereits gelb und rot waren, und fügte mit einem schwarzen Kohlestift die Falte zwischen den Augenbrauen hinzu – und wegen dieser Falte warf mich der Englischlehrer aus der Klasse. Er weiß nie unsere Namen, dieser Lehrer, er erkennt keinen außer Joli, deren Namen er sich gleich in der ersten Stunde gemerkt hat. Er nennt sie »Miss« wie eine Dame, »Miss Maimon« und manchmal »Miss Ja’el«. Für alle anderen in der Klasse erfindet er einfach jeden Tag andere Namen. Mich zum Beispiel hat er zweimal »Kubi« genannt. Ich habe natürlich nicht darauf reagiert. Woher hätte ich wissen sollen, dass ich für ihn »Kubi« war? Am Tag davor hieß ich Jizchak. Als er jetzt, weil ich nicht reagierte, an meinen Tisch kam, entdeckte er das Heft mit dem aufgeschlagenen Porträt von Michal. Ich war gerade mit der Falte zwischen ihren Augenbrauen fertig, aber er ließ sich nicht beeindrucken. Er legte seinen Finger auf das Blatt, einen langen, dünnen, gelben Finger, und blätterte zurück, bis er zu seinem eigenen Porträt kam. Er brauchte gar nicht viel zu blättern, ich hatte das Bild erst in der letzten Stunde gemalt – mit diesem Finger, der in der Luft herumfuchtelt, und dem Kopf, der aussieht wie ein Totenschädel, an dem die Haut klebt. Seine lange Nase hatte ich noch länger gemacht, als sie in Wirklichkeit ist, weil man bei einer Karikatur schließlich immer übertreibt.
    Er klappte das Heft mit einem lauten Schlag zu, fuchtelte mit dem Finger herum, genau wie auf meinem Bild, und sagte: »Kubi, Kubi, Kubi, was soll aus dir werden?« Das Schlimmste war ohnehin schon passiert – er hatte sein Porträt gesehen, deshalb senkte ich den Blick nicht, sondern sagte, dass ich Schabi heiße, nicht Kubi. Er sah keinen Grund, sich zu entschuldigen, er sagte nur, was er immer sagt, wenn er sich bei Namen irrt: »What’s in a name.« Das heißt, dass ein Name nicht wichtig ist. Ihm vielleicht nicht, aber mir.
    Und dann sagte unser Englischlehrer, der Sefardi heißt, dieser Satz sei von Shakespeare, aus »Romeo und Julia«, und Shakespeare sei der Größte von allen und wie schade es sei, dass ich nie etwas von ihm kennen lernen würde, denn einer wie ich wüsste doch nicht mal, wie man ihn richtig schreibt. Darauf gab ich keine Antwort. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass ich doch was von Shakespeare kannte? Ich hatte »Romeo und Julia« zwar nicht gelesen, aber ich hatte den Film gesehen. Inzwischen hatte er mein Heft in seine Anzugtasche gesteckt, nun schob er seinen Finger in ganzer Länge in seine Jackentasche, drehte sich zur Klasse um und fragte, ob irgendjemand schon etwas von Shakespeare gehört habe.
    Alle schwiegen. Als würden wir ihm keine Wahl lassen, hob er noch einmal diesen langen Finger, der aussieht wie das Bein eines alten Huhns und so gar nicht zu seinem blauen, glänzenden Anzug passte.
    Herr Sefardi senkte seinen gelben Finger auf Jolis Tisch, fuhr wie mit einem Messer darüber, dann schaute er Joli an und sagte: »Miss Maimon.« Und Joli, die den Kopf gesenkt hatte, dass ihre Haare den Tisch bedeckten, richtete sich auf, wurde rot und sagte leise etwas auf Englisch zu ihm, was ich nicht hören konnte. Er fragte sie laut, was sie gesagt habe. Da schaute sie auf mein Heft, das aus seiner Tasche herauslugte, und sagte: »Viel Lärm um nichts.« Ihre Stimme zitterte, als wäre sie wütend oder hätte Angst. Alle aus der Klasse wissen, dass Joli im englischsprachigen Kurs sein könnte und nur bei uns geblieben ist, weil die Kursstunden mit ihrem Trompetenunterricht zusammenfallen.
    Herr Sefardi, außer dem Sportlehrer der einzige männliche Lehrer an unserer Schule, hatte sich inzwischen an die Klasse gewandt und sagte, Miss Maimon, die fähig wäre, Referate zu halten,
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