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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle
Autoren: Batya Gur
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macht immer eine bestimmte Bewegung mit dem Kopf, als würde er sich die Haare, die ihm in die Augen hängen, aus dem Gesicht werfen. Und er ist sehr groß, der größte von uns allen. Und sogar wenn er die Khakikleidung der Pfadfinder trägt, sieht er aus wie aus einer Modezeitschrift. Seine ganze Schönheit und sein Benehmen hat er von seiner Mutter geerbt, die groß und blond und immer gut angezogen ist, sogar wenn sie den Mülleimer runterträgt. Trotzdem ist Nimrod nicht so schön wie die Statue, nicht die Spur. Sie haben nur zufällig den gleichen Namen. Er ist auch nicht so schön wie Joli, die eigentlich überhaupt nie darauf achtet, wie sie aussieht. Erst in der letzten Zeit hat sie damit angefangen. Erst seit er und sie Freunde sind, kommt sie mit solchen Kleidern in die Schule. Ich bin sicher, dass er schuld ist und dass er sie verdorben hat. Und trotzdem, obwohl ich Nimrod nicht leiden kann, war es mir wichtig, was er von mir denkt. Ja, es war mir wichtig. Wichtig, was für einen Eindruck ich auf ihn machte, sogar wenn das blöd ist. Deshalb habe ich Benji nicht zu diesem Spiel gegen Orat-Michlala mitgenommen, ich habe mich für ihn geschämt. Ich habe ihn noch nicht mal angerufen, ich bin einfach nicht zu ihm gefahren. Außerdem hoffte ich, dass Joli zu dem Spiel kommen würde, zumindest wegen Nimrod, aber sie ist nicht gekommen. Sie hat ihre Eltern, die ins Ausland fuhren, zum Flughafen gebracht.
    Benji hat auf mich gewartet und ich bin auch nicht gekommen. Den ganzen Nachmittag hat er gewartet. Vielleicht von vier bis sechs. Als ich jetzt daran dachte, fühlte ich mich schlecht, denn am Morgen darauf hatte ich ihn am Schultor gesehen, und er hatte mich noch nicht mal begrüßt. »Es tut mir Leid, dass ich dich nicht abholen konnte«, sagte ich und er antwortete: »Ist doch egal.« Aber ich kenne ihn. Natürlich war es ihm nicht egal, er tat nur so. »Ich hätte dich anrufen sollen«, sagte ich. »Aber ich war nicht zu Hause und nirgends war ein Telefon.« Er drehte den Kopf zur Seite, als hätte er keine Lust, zuzuschauen, wie ich Ausreden erfand. Ich wusste, dass er mir nicht glaubte, und dachte daran, wie er zu Hause gesessen und gewartet hatte, dass ich wenigstens anrief. Ich fragte ihn, ob er auf mich gewartet hätte, und er sagte: »Nein, ich habe mit meinem Schach-Freak aus Oklahoma eine Partie gespielt und gewonnen. Ich habe gar nicht an dich gedacht.« Ich hielt das für ein Märchen, aber ich konnte nichts sagen. »Und dann bin ich noch mit meinem Vater und meiner Mutter ins Kino gegangen«, erzählte er weiter, und darauf konnte ich nun wirklich gar nichts sagen. Ich denke nicht gern über Familien nach, denn dann fällt mir immer mein Vater ein, der seit dem Unglück kein Wort mehr spricht und tagelang in seinem Sessel sitzt und nichts tut, außer dass er mal ans Gericht schreibt, damit die Gerechtigkeit ans Tageslicht kommt. Nur wenn ein Brief von der Rentenversicherung kommt, wird er wach und spricht darüber mit meiner Mutter, sonst raucht er nur die ganze Zeit und hustet. Er ist viel älter als die Väter der anderen und arbeitet nicht, außer manchmal, wenn am Taxistand viel Betrieb ist und sie ihn um Hilfe bitten. Ich möchte nicht an ihn denken. Wenn es mir trotzdem passiert, schüttel ich meinen Kopf so heftig, dass meine Locken hüpfen. »Schwarzes Gold«, sagt meine Mutter zu meinen Haaren, und als ich ein kleiner Junge war, hat mir das immer gut gefallen. Aber jetzt hasse ich es, wenn sie so etwas sagt und mir dann auch noch mit den Fingern über den Kopf fährt.
    Einmal habe ich versucht, etwas über Benjis Familie herauszubekommen, aber es ist mir nicht gelungen. Benji sagte nur, er hätte eine Großmutter in den Vereinigten Staaten, in Florida, und er fände es langweilig, über seine Familie zu reden. Ihn langweilt oft etwas, andere Dinge machen ihn wütend. Aber als ich ihn die Treppe hinunterrennen sah, war er weder gelangweilt noch wütend.

    Um zu Benjis Haus zu gelangen, muss man an der Endstation der Linie 17 aussteigen und zu Fuß den Hügel hinaufsteigen. Schon beim Aussteigen fällt einem das Haus auf und von weitem kommt es mir immer wie eine Burg mit braunen Mauern vor. Hinter den Mauern gibt es Bäume, die den Blick auf alle Fenster im Erdgeschoss verdecken, auch einige vom ersten Stock. Und in dem ganzen großen Haus wohnen nur drei Personen: Benji, seine Mutter und sein Vater. Und manchmal habe ich das Gefühl, Benji würde ganz allein darin wohnen, weil man
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