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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle
Autoren: Batya Gur
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Sie sagen, es wäre wegen der Sicherheit, das heißt als Schutz vor Terroranschlägen, aber würde er Terroristen aufhalten können? Das schafft er doch nicht mal bei Kindern.
    Mich ließ er allerdings nicht hinaus. »Du bleibst hier!«, schrie er mich an, und als ich versuchte zu erklären, dass ich ein Heft vergessen hätte und es schnell holen wolle, stellte er sich vor das Tor und fing an, in Marokkanisch auf mich einzureden. Dieser Wachmann glaubt, dass jeder, der hier im Viertel wohnt, Marokkanisch kann.
    Ich sagte, er solle lieber auf das aufpassen, was wirklich wichtig sei. Gerade eben sei ein kleiner Junge weggelaufen, der erst in die dritte Klasse gehe. »Er ist noch nicht mal neun«, sagte ich, »und den haben Sie weglaufen lassen.«
    Der Wachmann drehte den Kopf und sagte noch ein paar Worte auf Marokkanisch, die ich nicht verstand, aber nach dem Tonfall konnte ich erraten, was er meinte. Dann schloss er das Tor mit einer Kette zu und setzte sich wieder hin. Sein Gesicht sah aus wie das meines Vaters, seit der beschlossen hatte, nicht mehr zu sprechen: leblos wie das einer Statue. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, als wär ich für ihn längst nicht mehr da.
    So entkam mir Benji, ohne dass ich ihn fragen konnte, was passiert war. Denn dass ihm etwas passiert war, hatte ich schon kapiert. Ich blieb am Tor stehen und überlegte, dass ich an allem schuld war. Ja, ich war schuld. Ich hatte morgens, vor dem Unterricht, nicht mit ihm gesprochen, auch nicht in der großen Pause. Auch gestern nicht, obwohl ich ihm angesehen hatte, dass er mir unbedingt etwas erzählen wollte. Aber da hatte ich gerade Joli aus der Klasse kommen sehen. Sie rief mich und sagte, ich solle das Bild auf ihrem Gips noch mal übermalen, das Rot sei verblasst. Ich ging sofort zu ihr, als ob Benji Luft wäre.
    Jetzt machte ich mir auf einmal solche Sorgen um ihn, dass ich mein Heft und Herrn Sefardi und die Englischstunde vergaß. Ich vergaß alles und stand nur da, im Hof, ohne zu wissen, was ich tun sollte. Und wenn Benji etwas wirklich Schlimmes passiert war? Etwas, weswegen er nie wieder mit mir reden würde? Wenn er mit mir nicht spricht, mit wem denn sonst? Er hockt doch nur die ganze Zeit in seinem Haus, mit seinen Computerspielen und dem Internet. Da hat er doch nur Freunde, die nicht wirklich etwas von ihm wissen. Mit denen löst er mathematische Probleme und spielt mit ihnen Schach. Ich habe schließlich die Verantwortung für Benji, weil ich sein Tutor geworden bin. Doch das ist nicht alles. Weil ich sein Tutor bin, durfte ich auch in den Malzirkel vom Museum. Aber auch das ist nicht alles. Ich hänge einfach ein bisschen an ihm.

    Man könnte sogar sagen, dass ich wegen Michals Augenbrauen auch den A-Kurs in Mathematik schwänzte, das einzige Fach, in dem ich gut bin. Das hatte ich noch nie getan. Ich wartete bis zur großen Pause, denn dann dürfen wir uns am Kiosk der hinkenden Esther belegte Brote kaufen, weil der Wachmann ihr nicht das Geschäft verderben will. In Esthers Kiosk gibt es nur eine Theke, einen Kühlschrank und einen hohen Stuhl. Manche sagen, sie würde hinken, weil sie von einem Auto überfahren wurde, andere sagen, sie wär mal aus dem zweiten Stock gesprungen, um vor ihrem Mann zu fliehen, weil er sie schlug. Ich weiß nicht, was wirklich war. Ich weiß nur, dass Esther hinkt und alt ist und dass sie eine Art Beule neben dem Auge hat, hässlich und schrecklich rot. Meine Mutter sagt, so etwas nennt man Hornhautverdickung. Das hört sich eklig an, fast so eklig wie Hühnerauge. Aber ich habe sie auch schon oft genug gesehen, wie sie auf ihrem hohen Stuhl sitzt und die Straße und die Kinder beobachtet, dann glitzert ihr anderes Auge und sie lächelt wie jemand, der an was Schönes denkt. Den ganzen Tag sitzt sie und sieht alles, außer in den großen Pausen, da kommen alle zu ihr und kaufen Eis oder Limo oder ein Ei-Sandwich.
    Wir haben uns schon oft über sie unterhalten, aber nie konnten wir uns entscheiden, ob sie auf unserer Seite ist oder auf der Seite der Lehrer. Manchmal glaube ich, dass sie ihnen alles erzählt und dass sie es von ihr wissen, wenn wir eine Stunde geschwänzt haben oder sonst was passiert ist, aber ich bin mir nicht sicher. Denn Esther ist eine, die alles weiß. Sie weiß, welche Bonbons Joli ganz besonders liebt, und sie weiß, dass ich Benjis Tutor bin. Zu Benji ist sie immer sehr nett, das nimmt mich ein bisschen für sie ein, und auch, dass sie sich von Nimrod nicht
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