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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels
Autoren: Rachel Hore
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Büchern, die er in der Wohnung aufbewahrte. Einmal hievte ich einen besonders schweren Band über Edward Burne-Jones aus dem Regal und schlug ihn auf. Auf der Titelseite stand geschrieben:
    Meinem eigenen geliebten Edward zum Geburtsta
In Liebe, Angie
29. März 1963
    Staunend blätterte ich weiter, spürte, wie kostbar dieser Beweis der Liebe zwischen meinen Eltern mir war, bis ich auf eine Serie von Engelsgemälden stieß. Dort steckte – zwischen einem Engelsbild mit dem Titel Glaube und einem anderen namens Hoffnung – ein kleines Schwarzweißfoto einer Frau. Diese Lippen, diese Haarpracht hätte ich überall erkannt.
    Ich steckte das Foto zurück zwischen die Seiten, legte das Buch unter mein Bett und erfreute mich daran, es jede Nacht bei mir zu haben. Als ich zum ersten Mal auf Tournee ging, hatte ich das Buch zur Sicherheit in meinem Kleiderschrank versteckt; und nun, nachdem ich die Krankenhaustasche für Dad gepackt hatte, schaute ich nach, ob es noch da war. Das Buch lag tatsächlich noch immer an derselben Stelle. Ich zog es heraus, setzte mich aufs Bett und betrachtete das Foto.
    Es war eine Studioaufnahme im Dreiviertelprofil. Das Licht fiel ihr schräg ins Gesicht. Ich vermutete, dass sie leicht geschminkt war, denn ihre Haut war einfach makellos. Aber auch sonst konnte niemand bestreiten, dass sie sehr hübsch war. Das dichte schwarze Haar war zu einer Ponyfrisur geschnitten, wie sie 1963 modisch gewesen war. Es war die Art Foto, wie man sie auf Theater- oder Konzertprogrammheften sah, und mir fiel plötzlich auf, dass ich eigentlich nie darüber nachgedacht hatte, was sie gemacht hatte, ehe sie Mutter geworden war. Für mich war sie immer und zuallererst meine Mutter gewesen, nie eine eigenständige Person mit einem eigenen Leben und einer eigenen Geschichte.
    Wie kann ich die Einsamkeit in meiner Kindheit beschreiben? Mein Vater liebte mich, das erkannte ich an der Art und Weise, wie er sich um meine körperlichen Bedürfnisse kümmerte, wie er mich behütete. Später merkte ich es an der gründlichen Ausbildung, die er mir in der Werkstatt zuteilwerden ließ, und daran, wie er mir mehr und mehr Verantwortung übertrug, mich im Laden bedienen und auch eigene Entwürfe machen ließ, die er sorgfältig ausführte und den Kunden stolz präsentierte, obwohl er sie auch als seine eigenen hätte ausgeben können.
    Einerseits vertraute ich ihm, bewunderte ihn. Aber ich konnte nie herausfinden, was an den Tagen in ihm vorging, an denen er verschlossen und in Depressionen versunken schien oder mich gereizt anfuhr. Ich lernte, keine Fragen zu stellen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich einen Bruder oder eine Schwester gehabt hätte, mit denen ich die Last der Einsamkeit hätte teilen können, vielleicht sogar nur einen anderen Erwachsenen, der sich für mich interessierte. Aber Dad war selbst ein Einzelkind gewesen; seine Eltern waren schon vor meiner Geburt gestorben, und wenn es noch lebende Angehörige meiner Mutter gab, hatten wir den Kontakt zu ihnen verloren. Ich hatte also keine Großmutter, für die ich zum Muttertag ein Bild hätte malen können, malte stattdessen eins für Dad.
    Ich kannte ihn als stolzen, würdevollen Mann, der immer sehr gepflegt gekleidet war. Unter seinem Arbeitsoverall trug er stets Hemd und Krawatte, und seine Lederschuhe waren immer frisch geputzt. Kein Wunder, dass er auch mit sechzig noch attraktiv für Frauen war. Seine tief liegenden Augen schienen in weite Ferne zu blicken, geheimnisvoll und unergründlich, und die leise, wohlklingende Stimme ließ auf unverbrauchte Leidenschaft schließen. Mit seiner körperlichen Präsenz – er war über eins achtzig groß – und seiner offenkundigen Überheblichkeit fiel er auf und wurde mit Respekt behandelt.
    Trotzdem glaube ich, dass er nach meiner Mutter nie wieder eine andere Frau angeschaut hat. Mit größter Leidenschaft stürzte er sich in den Entwurf wunderbarster Glasbilder und strebte in der Ausführung immer die höchste Perfektion an. Diese Kunstfertigkeit war es, die mich und ihn verband. Wir konnten stundenlang über die Herkunft irgendwelcher Kirchenfenster reden; sein Erinnerungsvermögen war phänomenal. Darüber hinaus galt sein Interesse der klassischen Musik. Er war es, der darauf bestanden hatte, dass ich zuerst Klavier und danach ein Orchesterinstrument meiner Wahl spielen lernte. Als ich mich für ein Blechblasinstrument entschied, war er etwas überrascht, aber er bezahlte mir die Stunden und kam
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