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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels
Autoren: Rachel Hore
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er auf dem Weg zu einem Geschäftstermin bei Dad vorbeischauen wolle. Ich sah ihm nach, wie er über den Greycoat Square verschwand, und war froh, allein zu sein.
    Der Nachmittag im Laden verlief ruhig. Ich überprüfte die Vorräte an Werkzeugen, die wir verkauften, und machte mir Notizen für Nachbestellungen. Danach suchte ich mir in der Werkstatt einen Platz, von dem aus ich sehen konnte, wenn jemand hereinkam. Ich steckte den Lötkolben ein und versuchte, einen Lampenschirm zu reparieren. Aber ich hatte so lange kein Blei mehr verlötet, dass ich erst an ein paar Reststücken üben musste, ehe ich mich an die Lampe wagte. Anschließend betrachtete ich mein Werk und kam zu dem Schluss, dass es gar nicht so schlecht geworden war. Ich stellte den fertigen Lampenschirm zur Seite. Dann nahm ich mir einen Spiegel mit zersplittertem Zierrand vor. Die Arbeit nahm meine ganze Aufmerksamkeit gefangen und beruhigte mich.
    Nur wenige Kunden kamen an diesem Nachmittag in den Laden. Ein kleiner Junge mit seinem Vater, der seiner Mutter zum Geburtstag einen der kleinen Spiegel kaufte. Eine Frau mittleren Alters mit blassroten Haaren und Kreol-Ohrringen brauchte Glas für ein Projekt in einem Abendkurs. Sie zog jede einzelne Scheibe aus dem Regal, ehe sie sich für eine schlichte blaue entschied. Eine junge Frau mit Jogginghose, strähnigen schwarzen Haaren und dunklen Augen stand lange vor dem Schaufenster herum, betrachtete die Auslagen und kaute an ihren Fingernägeln. Als ich herausging, um mir im Café einen Cappuccino zu holen, lächelte sie scheu und lief davon. Dabei schaute sie sich ängstlich um. Wie ein streunender Hund, dachte ich plötzlich mitleidig, sicher ist sie es gewohnt, ständig davongejagt zu werden.
    Am Abend fühlte ich mich plötzlich schrecklich einsam. Ich nahm mein Adressbuch aus der Handtasche und wählte die Nummer einer alten Freundin von der Musikhochschule, von der ich seit Jahren nichts gehört hatte. Ich erfuhr, dass sie weggezogen war, wohin konnte man mir nicht sagen. Als Nächstes rief ich einen Musiker-Kollegen in Süd-London an, danach eine Frau von der Konzertagentur, mit der ich locker befreundet war. Aber es war Samstagabend, und niemand war zu Hause. Niemand außer mir.
    Während ich die zerfledderten Seiten durchblätterte, wurde mir klar, dass ich alte Freundschaften zu wenig gepflegt hatte. Es war kaum noch jemand übrig.
    Unter ›P‹ stieß ich auf den Namen meiner alten Schulfreundin Jo Pryde. Rochester Mansions 11 lautete ihre Adresse, es war ihr Elternhaus. Aber ich hatte Jo ewig nicht gesehen, sie war sicher längst ausgezogen. Ich überlegte kurz, die Nummer trotzdem zu probieren, aber der Gedanke an ein mühsames Gespräch mit ihrem Vater oder ihrer Mutter hielt mich schließlich davon ab. Vielleicht war zu viel Zeit vergangen. Genauso wie bei allen anderen hatte ich mich auch bei ihr nicht mehr gemeldet, seit ich die Schule verlassen und mein unstetes Arbeitsleben begonnen hatte. Jetzt quälte mich deshalb ein schlechtes Gewissen. Doch damals war es mir wichtig gewesen, alles aufzugeben, alle Brücken abzubrechen und es auf eigene Faust zu versuchen.
    Schließlich gab ich die Suche nach alten Freunden auf und ging stattdessen nach oben, um ein paar Sachen einzupacken, die ich Dad am nächsten Tag ins Krankenhaus mitnehmen würde.
    Sein Schlafzimmer wirkte traurig und verlassen. Die goldene Anstecknadel mit dem Engel hatte ich auf seinen Nachttisch gelegt, gleich neben das Foto von mir. Es zeigte mich als Zwölfjährige, auf einem Walliser-Pony, während einem unserer seltenen Urlaube in der Nähe von Aberystwyth. Es war der einzige persönliche Gegenstand, den ich entdecken konnte. Nur an der Wand hing noch ein Bild, der gerahmte Druck eines Gemäldes von Alma Tadema, das eine unnatürlich blasse Badende in klassizistischer Umgebung zeigte. Das Wasser im Pool schimmerte märchenhaft blau, das Bild war handwerklich perfekt, aber ich hatte Alma Tademas Arbeiten schon immer kühl und emotionslos gefunden. Vielleicht war das der Grund, weshalb Dad das Bild gefiel. Denn auch er zeigte nur selten Gefühle. Und trotzdem wusste ich, dass er kein kalter Mensch war. Er versteckte seine Gefühle nur.
    Es gab nirgends ein Foto von meiner Mutter, was mich schon gewundert hatte, als ich noch sehr klein gewesen war. Ich wusste schlicht nicht, wie sie aussah, und Dad sorgte dafür, dass es in der Wohnung nichts gab, was an sie erinnerte. Er sprach kaum von ihr und wich meinen Fragen
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