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Ich muss Sie küssen, Miss Dove

Titel: Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Autoren: Laura Lee
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1. KAPITEL
Die Arbeit für einen gut aussehenden Mann birgt allerlei Gefahren. Angestellten Junggesellinnen empfehle ich in einem solchen Fall daher ein unerschütterliches Gemüt, ein unzerbrechliches Herz und einen großen Vorrat an Taschentüchern.
    Mrs. Bartlebys Ratgeber für Junggesellinnen, 1893

    „Warum?" Das exotisch aussehende schwarzhaarige Geschöpf in blassoranger Seide brach in Tränen aus. „Warum hat er mir das angetan?"
    Miss Emmaline Dove, die es allerdings vorzog, Emma genannt zu werden, verzichtete auf eine Antwort. Praktisch veranlagt wie immer, sparte sie sich den Atem und zog stattdessen ein Taschentuch hervor. Wortlos reichte sie es der Frau, die vor ihrem Schreibtisch saß.
    Juliette Bordeaux, neuerdings die Exgeliebte von Emmas Arbeitgeber Viscount Marlowe, griff dankbar zu. „Sechs himmlische Monate haben wir miteinander verbracht, und als mir sein Lakai diese hübsche kleine Schachtel überbrachte, war ich glücklich. Doch dann entdeckte ich den beiliegenden Brief, mit dem er unsere amour für beendet erklärt hat! Mon Dieu! Er glaubt, Juwelen könnten mich über diesen Schlag hinwegtrösten. Wie grausam er ist! " Sie senkte den Kopf und schluchzte mit einer Hingabe, die sehr französisch und leicht theatralisch wirkte. „Ach, Harry!"
    Emma rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her und sah verstohlen zu der vergoldeten Uhr auf ihrem Schreibtisch. Halb sieben. Marlowe konnte jeden Moment zurückkehren, und sie wollte noch mit ihm über ihr neues Manuskript sprechen, ehe er zur Geburtstagsfeier seiner Schwester ging.
    Sie war sich ganz sicher, dass er an diesem Abend noch einmal ins Büro zurückkommen würde. Das Geschenk, das sie in seinem Auftrag für Lady Phoebe besorgt hatte, lag fertig eingepackt bereit. Wenn er die abendliche Festivität nicht völlig vergessen haben sollte — eine Möglichkeit, die, zugegeben, nicht ganz ausgeschlossen werden konnte —, musste er das Geschenk vorher hier abholen.
    Das war für sie die beste Gelegenheit, mit ihm zu reden, denn schon am nächsten Tag würde er sich für eine Woche auf sein Anwesen in Berkshire begeben. Ohne Termine und Verhandlungen und ohne seine Familie, die in der Stadt bleiben wollte, würde er in Marlowe Park viel freie Zeit haben. Emma hoffte, dass er sich in der ruhigen Atmosphäre auf dem Land gut erholte und dadurch ihr Buch etwas positiver bewertete als in der Vergangenheit. Den Versuch war es jedenfalls wert.
    Emmas Blick fiel auf die Schreibmaschine auf ihrer Kredenz und den ordentlichen Stapel Manuskriptseiten daneben. In acht Tagen hatte sie selbst Geburtstag, und was für ein wundervolles Geburtstagsgeschenk würde es sein, wenn Marlowe endlich einwilligte, ihr Manuskript zu verlegen.
    Plötzlich beschlich sie ein vages Unbehagen, ein Gefühl, das so gar nicht zu der beglückenden Vorfreude passen wollte, die sie eben noch empfunden hatte. Es war schwer zu beschreiben, aber Unzufriedenheit und eine Art Rastlosigkeit schwangen darin mit.
    Sie versuchte, es zu verdrängen. Vielleicht hatte sie ja nur Angst vor einer neuerlichen Zurückweisung. Immerhin waren ihre vier früheren literarischen Bemühungen von Marlowe auch verschmäht worden. Er fand, Bücher über Etikette verkauften sich nicht, aber Emma wusste, das lag daran, dass die meisten bislang erschienen Ratgeber hoffnungslos veraltet waren und mit der heutigen modernen Zeit nicht mehr im Einklang standen. Deswegen hatte sie auch so besonders hart an ihrem neuesten Manuskript gearbeitet, um etwas Frisches und Ansprechendes zu erschaffen. Wenn sie Marlowe doch nur erklären könnte, warum dieses neue Buch bestimmt kein Ladenhüter sein würde! Vielleicht wäre er dann etwas aufgeschlossener dafür, besonders wenn er es entspannt und ungestört auf dem Land lesen konnte.
    Miss Bordeaux jedoch machte keinerlei Anstalten zum Aufbruch. Emma betrachtete die verzweifelte Frau ihr gegenüber und suchte nach einem glaubwürdigen Vorwand, sie loszuwerden. Falls Marlowes ehemalige Geliebte noch hier war, wenn er zurückkehrte, würden die zwei zweifellos in Streit geraten. Damit wäre dann jene Unterhaltung unmöglich, die Emma mit ihrem Arbeitgeber über ihr Buch führen wollte, und wieder eine goldene Gelegenheit vertan.
    Manche hätten vielleicht Emmas Unaufmerksamkeit und ihr fehlendes Mitgefühl für die andere Frau als Kaltherzigkeit ausgelegt, aber dem war nicht so. In den fünf Jahren als Marlowes Sekretärin hatte Emma seine Geliebten kommen und gehen
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