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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels
Autoren: Rachel Hore
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Prolog
    London, 3. September 1993
    Das Schild mit der Aufschrift Geschlossen hing nun schon seit fast einer Woche an dem Laden für Glaskunst. Aber es hatte die Passanten nicht davon abgehalten, an der Tür zu rütteln oder durch die Fenster ins Innere zu spähen, ob es drinnen nicht doch ein Lebenszeichen gab. Schließlich brannten ein paar Lichter, und die exquisiten Auslagen im Schaufenster hatten sie aus ihrer frühmorgendlichen Trance gerissen: ein Engel, der in der Mitte eines bogenförmigen Glasbildes schwebte; Sonnenfänger – zarte Libellen und Feen, die bei jeder Luftbewegung erzitterten; eine Vielzahl von Lampenschirmen im Tiffany-Stil, die wie üppige Blüten im Baumkronendach eines tropischen Regenwaldes von der Decke herabhingen.
    Ein junges Mädchen, das jeden Tag vorbeikam, bemerkte, dass die Tür hinten im Laden manchmal offen und manchmal geschlossen war und dass einmal zwei oder drei Kartons auf der Theke standen, die später wieder verschwunden waren.
    Noch eine andere Person besuchte den Laden in dieser Woche gleich mehrfach: ein Mann mittleren Alters, der eine Tweedjacke trug, unter der der Kragen eines Geistlichen zu erkennen war. Beim ersten Mal rüttelte er an der Tür und fand sie verschlossen vor. Er trat einen Schritt zurück und las die Worte Minster Glass über dem Eingang, dann rückte er seine Brille zurecht, um die Öffnungszeiten zu studieren. Anschließend ging er stirnrunzelnd durch die Grünanlage des gegenüberliegenden Platzes davon. Am nächsten Tag schob er einen weißen Umschlag durch den Briefkastenschlitz. Beim dritten Mal, als er gerade die Telefonnummer auf dem Schild in ein Notizbüchlein kritzelte, kam eine Frau mit Schürze und dicker Geldbörse aus dem Café nebenan.
    »Möchten Sie zu Mr. Morrison?«, rief sie und musterte den Mann von oben bis unten, als wolle sie sich vergewissern, dass er nicht nur ein hergelaufener Landstreicher war. »Er ist krank. Letzte Woche war der Krankenwagen da.« Mehr wusste sie auch nicht. Er bedankte sich höflich, steckte sein Notizbuch in die Tasche und wandte sich zum Gehen.
    Am Freitagnachmittag schließlich scherte ein schwarzes Taxi aus dem Verkehrsstrom aus und hielt vor dem Laden. Eine schlanke, hübsche Frau mit schulterlangen dunklen Haaren und blasser Haut stieg aus und zerrte ein paar Gepäckstücke auf den Gehweg.
    Anita war im Café und schaute gerade aus dem Fenster, während sie darauf wartete, dass die Kaffeemaschine einen Espresso brühte. Sie betrachtete die abgewetzte Reisetasche und den vollgestopften Rucksack und fragte sich, was wohl in dem anderen, seltsam unförmigen Behälter stecken mochte. Sicher irgendein Musikinstrument, überlegte sie. Entweder das oder ein ziemlich kleiner Elefant, der Form nach zu schließen.
    Die Frau wartete, bis das Taxi davongefahren war, und blickte versonnen auf das Ladenschild. Minster Glass . Mit dem kurzen Mantel, dem gestreiften Schal und den ernsten braunen Augen sah sie aus wie ein schüchternes Schulmädchen am ersten Tag nach wundervollen Sommerferien. Anita war neu im Café, sonst hätte sie die Identität der jungen Frau vielleicht erahnt und begriffen, dass Fran Morrisons ganzes Leben an ihrem geistigen Auge vorüberzog, während sie das Geschäft ihres Vaters betrachtete.

1. KAPITEL
    Tränen, wie von Engeln, fließen heraus.
    John Milton, Paradise Lost
    Manchmal, wenn ich an einem Sommermorgen früh erwache und alle anderen noch schlafen, liege ich wie in einem Tagtraum da und denke daran, wie alles begann. Ich erinnere mich genau an jenen Augenblick vor zehn Jahren, an jene Millisekunde, als ich beim Blick auf den geschlossenen, verlassenen Laden erkannt habe, dass alles anders geworden war, unwiederbringlich und für immer.
    Normalerweise ist eine Rückkehr nach Hause ein Rückschritt. Genau das hatte ich auch befürchtet, aber in diesem Fall entpuppte es sich als Schritt nach vorn in ein neues Leben. Ich habe häufig nachgedacht über diese Geschichte, die meine ganz persönliche Geschichte einer – ja, einer Engelsuche ist. Und nachdem ich so lange darüber gegrübelt und zugesehen habe, wie sich alles entwickelte – wie konzentrische Kreise, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft –, ist nun der Zeitpunkt gekommen, alles niederzuschreiben. Und so steige ich jeden Abend die Treppe zum Dachgeschoss hinauf, setze mich an Dads alten Schreibtisch und nehme den Füllhalter zur Hand. Und während es draußen noch lange hell ist, vertiefe ich mich in
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