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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels
Autoren: Rachel Hore
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betrachtete sein liebes Gesicht, und wieder fiel mir auf, wie entspannt und glücklich er wirkte. »Weißt du was? Das glaube ich auch.« Ich beugte mich vor, und wir küssten uns, dieses Mal leidenschaftlich.
    Wir hatten so viel zu bereden, aber im Augenblick war nichts auf der Welt so wichtig wie die Tatsache, dass wir zusammen waren.
    4. Juni 2003
    Wenn ich nun den Stift aus der Hand lege, sehe ich, dass es draußen dunkel ist. Ich sitze allein im Schein des Lichts von Dads alter Schreibtischlampe. Selbst die Geister haben mich verlassen, ihr Flüstern ist verstummt. Meine Geschichte ist beendet.
    Unten sieht Zac sich die Unterlagen für die Arbeit morgen an und horcht auf den kleinen Teddy, der im vorderen Zimmer schläft. Inzwischen ist er fünf Jahre alt, unser Sonnenschein, ein kleiner Engel mit denselben dunklen Locken wie sein Vater.
    Manchmal sitze ich nur neben ihm und sehe ihm beim Schlafen zu.
    Und manchmal frage ich mich, was aus einem anderen kleinen Jungen geworden ist – einem Jungen ohne Mutter –, der vor über hundert Jahren zum Mann heranwuchs.

NACHTRAG
    April 1881
    »Er will immer noch nicht sprechen.«
    »Der arme Kleine. Soll ich gehen und ihm Gute Nacht sagen?«
    »Du kannst es versuchen. Du wirst kein Wort aus ihm herausbekommen.«
    »Er ist doch noch so klein, Philip.« Der Junge war erst fünf, nur ein Jahr älter, als Ned gewesen war.
    »Er ist alt genug, um zu sprechen, wenn er dazu aufgefordert wird.«
    »Aber er hat so viel durchstehen müssen.«
    »Dann versuch es, meinetwegen.« Philip machte es sich mit seinem Buch in einem Sessel am Kamin bequem. Laura schloss die Wohnzimmertür leise hinter sich und horchte. Oben war alles still. Die Uhr in der Diele tickte laut vor sich hin. Die Abendröte kroch über den Fußboden.
    »Hilf mir«, flehte sie stumm.
    Sie ging die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu Johns Zimmer.
    Im Halbdunkel sah sie ihn im Bett liegen und den Kopf heben. Als er sie erblickte, drehte er sich auf den Bauch und verschwand unter der Bettdecke, bis nur noch sein dunkler Haarschopf zu sehen war.
    »John«, flüsterte sie. Er regte sich nicht. Sie durchquerte das Zimmer und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. »John, mein Schatz.« Er bewegte sich leicht. Was sollte sie nun tun?
    Es war die erste Nacht, die er bei ihnen verbrachte; die dritte Nacht seit ihrer Rückkehr von den Flitterwochen, eine unglaublich glückliche dreiwöchige Reise durch Italien. Sie war durch Kirchen und Galerien gelaufen und hatte sich alles genau angeschaut, während Philip gezeichnet und gemalt hatte. Und jetzt waren sie wieder zu Hause. Der Alltag hatte begonnen. Und schon lag der erste Stein im Weg, und dieser Stein war das Unglück ihres Stiefsohns.
    Vor der Hochzeit war sie nie mit John allein gewesen. Er war immer in Begleitung seiner Respekt einflößenden Großeltern gewesen, meist im Salon ihres Hauses am Eaton Square. John war in seinen besten Kleidern von seinem Kindermädchen hereingebracht worden. Man erwartete von ihm, dass er seinem Vater die Hand gab und vor Laura eine Verbeugung machte. Der Junge hatte jedes Mal schrecklich eingeschüchtert gewirkt.
    Und nun erwartete man von ihm, dass er häufig in die Lupus Street kam oder, besser gesagt, in das neue Haus, das sie bald suchen würden, auch wenn sein Hauptwohnsitz vorläufig noch am Eaton Square sein sollte.
    »John«, versuchte Laura es noch einmal. »Dein Vater ist verärgert, weil du nicht mit uns sprechen willst. Sag mir, was los ist, vielleicht kann ich dir helfen.«
    Immer noch nichts. War das gerade ein Seufzer gewesen, oder weinte er tatsächlich? Sie strich ihm sanft übers Haar und stellte fest, dass es weich und feucht war. Er zog den Kopf weg.
    »John«, wiederholte sie. »Was ist los?«
    Ein Schluchzer. Er weinte also.
    »Oh, Liebling«, flüsterte sie hilflos. »Wein doch nicht, es wird alles gut.« Wieder strich sie ihm übers Haar, und dieses Mal wich er ihr nicht aus. Sie beugte sich über ihn und versuchte, ihn in die Arme zu nehmen. »Was ist los?«, flüsterte sie wieder.
    Er murmelte ein paar Worte.
    »Was hast du gesagt?«
    »Ich will meine Mama.«
    Seine zittrige Stimme zerriss ihr fast das Herz. »Oh John, es tut mir so leid.«
    »Ich will zu meiner Mama. Mama!« Jetzt weinte er richtig. Behutsam zog sie die Decke weg und nahm ihn in die Arme. »Meine Mama, meine Mama, meine Mama. Ich will zu meiner Mama.« Er schmiegte sich an sie, und sie hielt ihn fest an sich gedrückt, wiegte ihn sanft
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