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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels
Autoren: Rachel Hore
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meine Arbeit.
    Mein altes Zuhause war das allerletzte, wo ich in jenem wunderbar milden Herbst 1993 sein wollte. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich mir eine Wohnung in einem alten Palazzo in Venedig ausgesucht, eine hübsche Pension in Heidelberg oder ein vornehmes Luxushotel in New York oder Tokio. Irgendwas ganz anderes jedenfalls, etwas Exotisches, wo ich ganz und gar in der Gegenwart leben und die Vergangenheit vergessen konnte. Aber manchmal lässt uns das Leben keine Wahl. So fand ich mich in London wieder – eine traurige Heimkehr angesichts der Umstände. Und trotzdem: Wenn ich es vom heutigen Standpunkt aus betrachte, erkenne ich, dass es genau richtig war.
    Am Tag zuvor, als Zac mich endlich erreicht und mir die Nachricht übermittelt hatte, befand ich mich in Athen. Ich dämmerte an einem brütend heißen Nachmittag in meinem Hotelzimmer in einem der älteren Stadtteile vor mich hin. Der Hausmeistersohn, ein mürrischer Sechzehnjähriger, hatte an meine Tür geklopft und mich dann zu einem Telefon in der kühlen, gefliesten Hotellobby geführt.
    »Fran! Endlich!«, rief die Stimme am anderen Ende der Leitung.
    »Zac, was ist denn los?« Den schottischen Akzent hätte ich überall auf der Welt erkannt. Zac war Dads Mitarbeiter bei Minster Glass .
    »Wieso zum Teufel liest du deine Nachrichten nicht?«
    Kein »Wie geht’s dir?« oder »Ich hab ja ewig nichts von dir gehört«. Er klang so aufgeregt, dass ich ihn nicht mal fragte, wo er denn Nachrichten für mich hinterlassen und wie er meine Nummer ausfindig gemacht habe.
    »Ich habe keine Nachrichten bekommen, deshalb. Was ist denn los, Zac?« Dabei ahnte ich längst, was los war.
    Die Gereiztheit in Zacs Stimme verschwand, an ihre Stelle trat Verzweiflung. »Du musst unbedingt nach Hause kommen. Sofort! Dein Vater liegt im Krankenhaus – und diesmal ist es sehr ernst, Fran. Er hatte einen schweren Schlaganfall.«
    Ich versuchte, klar zu denken, als ich an diesem Abend packte. Es gab niemanden in Athen, den ich benachrichtigen musste, denn die Konzerttournee war seit einigen Tagen beendet. Die anderen Mitglieder des Orchesters waren gleich am nächsten Morgen weitergereist, hatten sich in der Lobby mit lautstark auf die Wange gehauchten Küsschen verabschiedet und sich gegenseitig versprochen, in Kontakt zu bleiben. Auch Nick war abgereist. Ich hatte einige Tage zuvor beschlossen, mir eine preiswertere Bleibe zu suchen und noch ein bisschen Urlaub zu machen, und er war genau in dem Augenblick aufgetaucht, als es mir gerade mies ging und ich die anderen darum beneidete, dass sie aufgeregt nach Hause fuhren. Er hatte gelächelt, mich züchtig auf die Wange geküsst und gemurmelt: »Auf Wiedersehen. Pass auf dich auf.«
    »Das tue ich immer. Auf Wiedersehen, Nick«, hatte ich, so cool ich nur konnte, geantwortet und zugesehen, wie er sein Gepäck nach draußen schleppte. Um mich noch ein bisschen mehr zu quälen, spähte ich durch die Topfpflanzen im Fenster, sah zu, wie er sein Cello im Kofferraum des Taxis verstaute und aus meinem Leben verschwand – für immer.
    Als alle fort waren, reiste ich mit meinen Taschen und meiner Tuba in das schäbige Hostel Aphrodite . Ursprünglich hatte ich vorgehabt, ein bisschen Sightseeing zu machen, bis ich erfuhr, wo ich als Nächstes musizieren würde – irgendwas Schickes, hoffte ich. München zum Beispiel oder Rio oder Paris. Aber dann war ich so erschöpft gewesen, dass ich nicht mehr die Energie aufbrachte, mir die Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Schließlich hatte Zac angerufen, und alles war ganz anders geworden.
    Nun stand ich also vor unserem alten Laden am Greycoat Square. Minster Glass , der Ort, an dem ich geboren wurde. Das meine ich natürlich nicht wörtlich. Meine Geburt hatte vor dreißig Jahren in demselben Krankenhaus stattgefunden, in dem mein Vater nun lag, vermutlich auch in demselben Krankenhaus, in dem meine Mutter gestorben war, als ich noch klein war.
    Es ist eine geheimnisvolle Gegend, dieser Teil von Westminster, mit der gewaltigen gotischen Westminster Abbey und der im italienischen Stil verschnörkelten katholischen Kathedrale, zwischen der geschäftigen Victoria Street im Norden und der Themse im Süden; eine Gegend voller versteckter grüner Plätzchen wie unserem, mit viktorianischen Häusern, deren Vorgärten mit schwarzen schmiedeeisernen Zäunen umgeben waren. An den Türen hingen Messingschilder der seltsamsten Organisationen und Firmen: die Theosophische Gesellschaft
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