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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark
Autoren: Haruki Murakami
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    23:56 Uhr
    Vor uns liegt eine Großstadt. Mit den Augen eines hoch am Himmel fliegenden Nachtvogels nehmen wir die Szenerie wahr. Aus dieser Höhe wirkt die Stadt wie ein riesiges Lebewesen. Oder wie eine künstliche Ansammlung unendlich vieler ineinander verschlungener Existenzen. Zahllose Adern reichen bis in die entlegensten Zonen dieses Organismus, lassen sein Blut zirkulieren und tauschen unablässig die Zellen aus. Neue Informationen werden versandt, alte zurückgeholt. Neue Güter werden geliefert, alte entsorgt. Neue Widersprüche entstehen, alte werden aufgehoben. Ein gemeinsamer Pulsschlag durchpocht den ganzen Körper, überall blinkt es, erhitzt und windet sich. Es ist kurz vor Mitternacht, und der Höhepunkt seiner Aktivität ist überschritten, doch der allem zugrunde liegende, lebenserhaltende Stoffwechsel arbeitet unvermindert weiter. Ein ununterbrochenes leises Dröhnen erhebt sich aus der Stadt, monoton, ohne Auf und Ab, doch voller Ahnungen und Verheißungen.
    Wir richten unseren Blick auf einen Teil, an dem die Konzentration der Lichter besonders dicht ist, und lassen ihn an diesem Punkt ruhig hinabsinken in das Meer aus bunten Leuchtreklamen. Es ist ein Bezirk, den man als belebt bezeichnen würde. Die riesigen Digitalbildschirme an den Wänden der Gebäude sind um Mitternacht still geworden, aber aus dem Lautsprecher über einem Lokal tönen weiter übertriebene, leise Hiphop-Klänge. Eine große Spielhalle voller junger Leute. Schrille elektronische Geräusche. Eine Gruppe von Studentinnen, anscheinend auf dem Heimweg von einer Party. Teenager mit hellblond gefärbtem Haar, unter deren Miniröcken gesunde Beine hervorschauen. Angestellte, die hastig über die Kreuzung laufen, um die letzte Bahn nicht zu verpassen. Die Anreißer der Karaoke-Bars sind um diese Zeit noch ganz in ihrem Element. Ein auffälliger schwarzer Wagen gleitet langsam vorbei, um die Straße zu sondieren. Seine Scheiben sind mit schwarzer Folie überzogen. Er wirkt wie ein Geschöpf aus der Tiefsee mit einer besonderen Haut und speziellen Organen. Zwei junge Polizisten mit angespannten Gesichtern patrouillieren auf derselben Straße, achten jedoch kaum auf ihn. Um diese Zeit funktioniert die Stadt nach ihren eigenen Gesetzen. Der Herbst neigt sich seinem Ende zu. Es weht kein Wind, aber die Luft ist kalt. Gleich wird das Datum umschlagen.
    Wir befinden uns in einer Filiale der Restaurantkette »Denny's«.
    Die Beleuchtung ist langweilig, aber ausreichend hell, Interieur und Geschirr sind von neutralem Geschmack. Betriebstechniker haben diese Räumlichkeiten bis ins kleinste Detail ausgeklügelt. Im Hintergrund ertönt leise, unaufdringliche Musik, und die Angestellten sind darauf gedrillt, sich wie nach einem Lehrbuch der Gastronomiebranche zu benehmen. »Herzlich willkommen bei >Denny's<.« Das Lokal ist austauschbar und anonym. Es könnte überall sein. Fast alle Plätze sind besetzt.
    Als wir uns umschauen, fällt uns ein Mädchen auf, das an einem Platz am Fenster sitzt. Was macht sie hier? Warum ist niemand bei ihr? Den Grund dafür erkennen wir nicht. Dennoch ist es ganz natürlich, dass die junge Frau unsere Blicke auf sich zieht. Sie sitzt allein an einem Vierertisch und liest in einem Buch. Sie trägt einen grauen Parka mit Kapuze, Blue Jeans und verblichene gelbe Turnschuhe, die sichtlich schon viele Male gewaschen wurden. Über der Lehne des Stuhls neben ihr hängt eine Stadionjacke, die auch nicht gerade neu aussieht. Dem Alter nach könnte das Mädchen ein Erstsemester sein. Keine Schülerin, auch wenn sie noch etwas Schulmädchenhaftes an sich hat. Ihre Haare sind schwarz, kurz und glatt. Kaum Make-up, kein Schmuck. Sie hat ein schmales kleines Gesicht und trägt eine dunkelgrüne Brille. Von Zeit zu Zeit runzelt sie die Stirn, sodass eine ernste Falte zwischen ihren Brauen entsteht.
    Sie liest sehr konzentriert und hebt nur selten den Blick von den Seiten ihres dicken gebundenen Buches. Den Titel kann man nicht erkennen, denn es ist in das Papier des Buchladens eingeschlagen. Doch ihre ernste Miene lässt auf ein Werk gewichtigen Inhalts schließen. Sie scheint es nicht zu überfliegen, sondern Zeile für Zeile durchzukauen.
    Auf dem Tisch steht eine Tasse Kaffee. Und ein Aschenbecher. Daneben liegt eine dunkelblaue Baseballkappe mit dem B der Boston Redsocks, die für ihren Kopf ein bisschen zu groß sein könnte. Auf dem Stuhl neben ihr steht eine braune, unförmige Schultertasche aus Leder, die aussieht,
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