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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels
Autoren: Rachel Hore
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könnte also wichtig sein, und riss den Umschlag auf.
    Die einzelne Seite war überschrieben mit Pfarrei St. Martin ’ s Westminster. Pfarramt und stammte offenbar vom Pfarrer selbst, denn es gab weder Absätze noch einen Seitenrand.
    Lieber Ted,
    ich wollte dich gestern im Geschäft besuchen, aber es war leider geschlossen. Bist du vielleicht unterwegs? Wenn ja, so hoffe ich, dass du diesen Brief bei deiner Rückkehr findest.
    Es wäre jedenfalls schön, wenn du mich bei nächster Gelegenheit anrufen würdest, denn ich habe eine Entdeckung gemacht, die dich sicher interessieren wird. Auf jeden Fall erfordert sie deinen fachmännischen Rat, da deine Firma ja einige unserer Kirchenfenster angefertigt hat. Das könnte auch eine gute Gelegenheit für dich sein, die Fenster einmal in Augenschein zu nehmen – bezüglich der Befunde in unserem jüngsten Fünfjahresgutachten, von denen ich dir ja berichtet hatte.
    Ich freue mich darauf, von dir zu hören. Unsere Gespräche bedeuten mir sehr viel.
Beste Grüße
Jeremy
REVEREND JEREMY QUENTIN
    St. Martin’s war die viktorianisch-gotische Sandstein-Kirche in der Vincent Street, die den Greycoat Square an der gegenüberliegenden Ecke streifte und in etwa parallel zur Victoria Street verlief. Ich erinnerte mich nicht daran, die Kirche je betreten zu haben, weil sie immer geschlossen ausgesehen hatte, wenn ich an ihr vorbeikam. Aber die vergitterten bunten Fenster waren mir schon häufiger aufgefallen, und ich hatte mich gefragt, welche Szenen darauf wohl dargestellt sein mochten. Vage erinnerte ich mich daran, dass Dad mir mal erzählt hatte, Minster Glass habe sie hergestellt – irgendwann in viktorianischer Zeit.
    Er hatte mir auch erzählt, dass ich dort getauft worden bin, aber bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir einen Gottesdienst besuchten, gingen wir immer in die Westminster Abbey. Wir beide liebten die Musik, und Dad fand die Predigten intellektuell anspruchsvoller. Außerdem konnten wir uns dort nach dem Gottesdienst leichter hinausschleichen, ohne dass er in aufdringliche Gespräche verwickelt wurde. Denn in spirituellen Angelegenheiten bevorzugte er es ebenso wie sonst im Leben eher privat. Es wunderte mich, dass er sich mit Reverend Quentin angefreundet hatte.
    Ich steckte den Brief zurück in den Umschlag und ließ ihn auf der Theke liegen. Zugleich nahm ich mir vor, den Pfarrer so bald wie möglich anzurufen und über Dads Zustand zu informieren.
    An diesem Abend putzte ich die Wohnung gründlich, auch um mich ein bisschen abzulenken. Ich warf alte Lebensmittel fort, wischte den verblichenen Linoleumboden, schrubbte das alte Bad und staubsaugte das Wohnzimmer, so gut es mit Dads altersschwachem Gerät möglich war. Der lange Tag, die aufwühlenden Gefühle und die ungewohnte körperliche Anstrengung hatten mich vollkommen erschöpft. Ich ließ mich in den Sessel am Wohnzimmerfenster fallen und stocherte in einem abgepackten Hühnersalat herum.
    Die Gärten am Greycoat Square färbten sich im Sonnenuntergang erst golden, dann silbrig, als die Dunkelheit hereinbrach. Der Reihe nach gingen in den Häusern ringsum die Lichter an, und die Gehwege schimmerten im schwefelgelben Schein der Straßenlaternen. Ich hatte ganz vergessen, wie friedlich und schön der Platz sein konnte. Kaum zu glauben, dass man sich im Herzen einer Großstadt befand.
    Ein paar Häuser weiter, neben einem Antiquariat, gab es eine neue Weinbar. Die Gäste kamen heraus und traten in die milde Abendluft. Durch das allgemeine Stimmengewirr registrierte ich in der Ferne die erhabenen Klänge von Elgars Cello-Konzert. Ich stand auf, um genauer hinzuhören. Die Musik drang von irgendwo auf der anderen Seite des Platzes an mein Ohr. Plötzlich überfiel mich der Wunsch, noch einmal mit Nick zu sprechen, mit solcher Heftigkeit, dass es fast körperlich schmerzte.
    Ich hatte ihn vor drei Wochen in Belgrad kennengelernt, als ich zum Royal London Orchestra stieß, das sich auf einer Osteuropa-Tournee befand. Nick Parton war ein paar Jahre jünger als ich, ein sehr begabter und ebenso ehrgeiziger Cellist. Seine ungeheure Energie gefiel mir ebenso wie die sanfte, immer etwas spöttische Stimme, die glatte, olivfarbene Haut und das perfekte Profil, das ich jeden Abend von meiner Position im hinteren Teil des Orchesters bewundern konnte.
    »Ich kann gar nicht glauben, dass Sie stark genug sind, dieses Monstrum zu spielen«, waren seine ersten Worte gewesen. Dabei hatte er auf die Tuba in meinem Arm
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