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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels
Autoren: Rachel Hore
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beharrlich aus. Einmal beim Abendessen erwähnte ich eine Freundin aus der Grundschule, die an Heiligabend Geburtstag hatte. »Es ist so unfair«, sagte ich damals, »von manchen Leuten bekommt sie immer nur ein Geschenk.« Zu meinem Entsetzen sah ich, wie ein Anflug gequälter Traurigkeit über sein Gesicht huschte.
    »Darüber hat sich deine Mutter auch beklagt«, murmelte er und legte Messer und Gabel aus der Hand. »Sie hatte auch an Weihnachten Geburtstag. Einmal hatte ich nur ein Geschenk für sie, und darüber hat sie sich schrecklich aufgeregt.« Wie ein Häufchen Elend starrte er auf das Essen, das ich ihm gekocht hatte. Und dann erhob er sich so langsam und bedächtig, als sei ich gar nicht da, kratzte die Reste auf seinem Teller zusammen, leerte sie in den Mülleimer und verließ das Zimmer. Ich saß allein am Tisch, und die Tränen liefen mir über die Wangen. Mir war klar, dass ich etwas Falsches gesagt hatte, verstand aber nicht, wieso.
    Nur weil ich irgendwann an der Tür lauschte, erfuhr ich, wie meine Mutter gestorben war. In meinem ersten Jahr an der weiterführenden Schule hatten wir Besuch, was nur sehr selten vorkam. Es war Mrs. Webb, meine Klassenlehrerin. Sie war gekommen, um sich zu erkundigen, warum Dad sich geweigert hatte, mir die Erlaubnis zu einer einwöchigen Klassenfahrt in den Peak District zu unterschreiben. Vermutlich hatte er Angst, mich so lange wegzulassen. »Sie ist doch alles, was ich habe«, hörte ich ihn von meinem Versteck vor der Wohnzimmertür zu Mrs. Webb sagen und strahlte förmlich vor Freude über diesen Liebesbeweis. Natürlich würde ich zu Hause bleiben, wenn er nicht ohne mich sein konnte. Aber das, worüber sie als Nächstes sprachen, beunruhigte mich.
    Mrs. Webb erkundigte sich nach meiner Mutter. »Ein Unfall. Frances war noch klein.« Dad sprach so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. »Sie ist im Krankenhaus gestorben. Mit meiner Tochter habe ich nie darüber gesprochen. Es würde sie nur belasten.«
    Dad gab nicht preis, wann, wie oder wo der Unfall geschehen war. Mrs. Webb überredete ihn schließlich dazu, die Einwilligung zur Klassenfahrt zu unterschreiben, und war im Übrigen sensibel genug, ihn nicht weiter zu bedrängen.
    Meine Mutter. Ich sehnte mich danach, mehr über sie zu erfahren, wusste aber nicht, wie ich es anstellen sollte; aus Rücksicht auf Dad traute ich mich nicht, ihn anzusprechen.
    Obwohl ich mich nicht an sie erinnern konnte, war mir ihre Abwesenheit immer äußerst schmerzlich bewusst. »Malt eine Karte zum Muttertag«, sagte die Lehrerin in der Grundschule zum Beispiel, ehe sie mein angespanntes Gesicht bemerkte und verlegen zu stottern begann, während die anderen Kinder mich neugierig anstarrten. »Äh … Vielleicht malst du stattdessen eine für deine G … Großmutter, Frances.«
    Manchmal, wenn ich abends im Bett lag und gerade einschlafen wollte, versuchte ich mich an sie zu erinnern, an irgendwas von ihr, aber es gelang mir nicht. Hin und wieder erregte das Stoffmuster eines Kleids meine Aufmerksamkeit oder der Hauch eines bestimmten Parfums … aber nie konnte ich den Zipfel der Erinnerung einfangen, so schnell war er schon wieder verflogen.
    Und als ich ungefähr zehn war, brachte ich den Mut auf, Dad zu fragen, wie meine Mutter ausgesehen hatte. »Wie du«, sagte er, und das gefiel mir. Aber er könne sich keine Fotos von ihr anschauen, fügte er hinzu, das mache ihn zu traurig. Damals fand ich mich damit ab. Ich kam nicht auf die Idee, dass ich in dieser Angelegenheit irgendwelche Rechte haben könnte. Erst als Teenager wurde ich zunehmend aufsässig und unzufrieden und redete mir ein, Dad zu hassen – denn ganz offensichtlich schien es ihn nicht zu interessieren, ob ich traurig war oder nicht!
    Kurz darauf fand ich ein Album mit Fotos von mir, erst als Baby, dann als pausbäckiges, fröhliches Kleinkind. An manchen Stellen hatte offensichtlich jemand Fotos herausgerissen. Fotos meiner Mutter, so vermutete ich. Ich musste mich damit begnügen, nur Details von ihr zu sehen – ihre Arme, die mich umschlossen; ein elegantes Beinpaar, das sichtbar war, weil sie hinter mir stand, während ich meine ersten Schritte machte; wellige schwarze Haare, geschwungene Lippen, die über meinen Babylocken zu erkennen waren.
    Einige Monate später war es dann endlich so weit – mir gelang der große Glücksgriff. Ich interessierte mich zunehmend für Dads Arbeit, beschäftigte mich mit Kunstgeschichte und las häufig in den vielen
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