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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels
Autoren: Rachel Hore
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erkundigt hatte.
    Irgendwann fielen ihm die Augen zu. Ich wartete ein paar Minuten, aber er war in tiefen Schlaf gesunken. Ich verstaute die Brosche wieder sicher in meiner Handtasche, dann beugte ich mich vor und drückte meine Lippen an seine Wange. Wie viele Jahre waren vergangen, seit ich das zum letzten Mal getan hatte?
    Ich wollte mich noch nach seinen Fortschritten erkundigen, aber weit und breit war kein Arzt zu sehen. Auf dem Weg nach draußen fragte ich im Schwesternzimmer nach; dort riet man mir, morgens anzurufen, wenn Dr. Bashir Dienst hatte.
    Erst als ich das Krankenhaus verließ, fiel mir ein, dass ich Dad gar nichts von Reverend Quentins geheimnisvoller Entdeckung und unserem geplanten Besuch in St. Martin’s erzählt hatte.
    Nach einem kurzen Mittagsimbiss schaute ich mir die Zeichnungen für das keltische Fenster an und überprüfte, welche Maße es verlangte. Anschließend maß ich die Glasscheibe, die Dad dafür vorgesehen hatte, und nahm ein paar kleinere Anpassungen vor, ehe ich alles miteinander verlötete und verkittete. Das Ergebnis gefiel mir gut, offenbar hatte ich nichts verlernt. Ob das auch für mein Tuba-Spiel galt, stand auf einem ganz anderen Blatt. Kurz entschlossen ging ich nach oben und nahm sie aus dem Kasten. Ich zerlegte sie in ihre Einzelteile, reinigte sie gründlich, fettete die Ventile ein und spielte ein paar Übungsstücke.
    Am späten Nachmittag unternahm ich einen Spaziergang. Ich ging am Innenministerium vorbei bis zum Parliament Square. Diesen Weg waren Dad und ich früher oft gegangen, und er hatte mir erzählt, wie es früher in dieser Gegend ausgesehen hatte. »Da, wo wir heute wohnen, waren Obstwiesen«, hatte er zum Beispiel gesagt. Oder: »In viktorianischer Zeit stand das Royal Aquarium an der Stelle, wo sich heute das Hotel befindet.«
    Heute ging ich auf dem Rückweg an der Kirche St. Martin’s vorbei. Offenbar fand dort gerade die Abendmesse statt. Mit neuem Interesse betrachtete ich die Fassade. In den Schlussstein über dem Hauptportal war das Jahr der Grundsteinlegung eingemeißelt. 1851. Wann genau mochte Minster Glass die Fenster gefertigt haben? Wer wohl der Künstler gewesen war? Nachdenklich setzte ich meinen einsamen Nachhauseweg fort. Ich musste es herausfinden.
    Dad hatte solche Recherchen immer sehr genau genommen, und ich wusste, dass es wichtig war, die Originalunterlagen ausfindig zu machen, um das richtige Material beschaffen und die Restauration fachgerecht ausführen zu können. Heutzutage gab es da klare Richtlinien: Konservierung – Einhalt des Verfalls lautete das Gebot. Alle Restaurationsprozesse mussten genau dokumentiert werden; sie mussten substanzerhaltend und reversibel ausgeführt sein.
    Minster Glass existierte seit 1865. Ich wusste das seit meinen frühen Teenagerzeiten, jenen unbeschwerten Tagen, als es mir Spaß gemacht hatte, Dad im Laden zu helfen, die Techniken des Glasschneidens, der Glasbemalung und der Bleiverlötung zu erlernen und seinen Anekdoten über die Geschichte des Ladens zu lauschen. Es dauerte nicht lange, bis ich die verschiedenen Sorten Rohglas schon auf den ersten Blick unterscheiden und auch bei einem komplizierten Entwurf die benötigte Menge Blei exakt berechnen konnte. Ich wusste, dass mein Großvater nach dem Krieg an den Glasarbeiten für die neue Kathedrale von Coventry beteiligt gewesen war. Dessen Großvater wiederum hatte Minster Glass geerbt, nachdem mein Ur-Ur-Großvater nach dem Sturz von einem Gerüst gestorben war.
    Die Bücher, Aktenordner und Papiere, die sich in unserer Wohnung türmten, dokumentierten zum größten Teil die Geschichte unserer Firma, aber nur Dad wusste, wo genau man was finden konnte. Wie durch ein Wunder hatte alles die Feuchtigkeit und den Blitzkrieg überlebt und war unbeschadet von Vater oder Mutter an den Sohn und an den Enkel weitergegeben worden. Nach Granddads Tod vor einigen Jahren hatte Dad den riesigen Dachboden zu einem zusätzlichen Arbeitszimmer umgebaut. Neben allem möglichen anderen Zeug bewahrte er dort die Originalentwürfe und die handgeschriebenen Kontobücher auf, die jeden einzelnen Auftrag verzeichneten, den die Firma je ausgeführt hatte.
    Vor einem Jahr hatte Zac ihn dazu überredet, unten im Büro einen PC zu installieren. Dennoch bevorzugte Dad es, weiterhin seine Kontobücher und Auftragsjournale zu führen, in denen er jeden Handgriff in schwungvoll gewundenen schwarzen Lettern verzeichnete. »Das geht viel schneller, als zu warten, bis
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