Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paradies

Paradies

Titel: Paradies
Autoren: Liza Marklund
Vom Netzwerk:
PROLOG
    Die Zeit ist abgelaufen, dachte sie. So ist es also, wenn man stirbt.
    Sie schlug mit dem Kopf auf den Asphalt auf, ihr Bewusstsein trübte sich. Die Angst verschwand zusammen mit der Wahrnehmung von Geräuschen. Es herrschte Stille.
    Ihre Gedanken waren ruhig und klar. Bauch und Geschlecht pressten sich auf die Erde, Eis und Schotter an Haar und Wange.
    Wie eigentümlich doch alles sein konnte, wie wenig man im Grunde vorhersehen konnte. Wer hätte ahnen können, dass es ausgerechnet hier geschehen würde? An einer fremden Küste, hoch im Norden.
    Dann sah sie den Jungen wieder vor sich, seine ausgestreckten Arme, empfand das Entsetzen, hörte die Schüsse, wurde von Tränen und dem Gefühl der eigenen Unvollkommenheit erfüllt.
    »Verzeih«, flüsterte sie. »Verzeih mir meine Feigheit, meine erbärmliche Unfähigkeit.«
    Plötzlich spürte sie wieder den Wind. Er schmerzte, zerrte an ihrer großen Tasche. Die Geräusche kehrten zurück, ihr Fuß tat weh. Sie wurde sich der Kälte und der Feuchtigkeit bewusst, die durch ihre Jeans krochen. Sie war nur gestolpert, nicht getroffen worden. Ihr Kopf leerte sich wieder, bis nur ein einziger Gedanke blieb.
    Weg hier.
    Sie stemmte sich hoch auf alle viere, der Wind warf sie wieder zu Boden, sie stand auf. Die umstehenden Gebäude machten die Windböen unberechenbar, sie fuhren, vom Meer kommend, die Straße herauf wie unbarmherzige Stockschläge.
    Ich muss hier weg. Sofort.
    Sie wusste, dass der Mann irgendwo hinter ihr war. Er versperrte ihr den Weg zurück in die Stadt, sie saß fest.
    Ich darf nicht im Scheinwerferlicht stehen bleiben. Ich muss fort.
    Fort!
    Eine neuerliche Windbö verschlug ihr den Atem. Sie schnappte nach Luft, drehte ihr den Rücken zu, noch mehr gelbe Scheinwerfer, die aus all dem schäbigen Gold machten, wo sollte sie hin?
    Sie nahm die Tasche und lief mit dem Wind im Rücken auf ein Gebäude zu, dessen Längsseite parallel zum Wasser verlief. Ein langer Ladekai führte daran vorbei. Der Wind hatte einiges Gerümpel umgeweht, was zum Teufel war das? Eine Treppe? Ein Schornstein! Möbel. Ein gynäkologischer Behandlungsstuhl. Ein Ford-T. Das Cockpit eines Kampfflugzeugs.
    Sie schwang sich auf den Kai hinauf, riss die Tasche hoch, kreuzte zwischen Badewannen und Schulbänken hindurch und verkroch sich hinter einem alten Schreibtisch.
    Er findet mich, dachte sie. Es ist nur eine Frage der Zeit. Er wird niemals aufgeben.
    Sie kauerte sich zusammen wie ein Embryo, schwankend, keuchend, nass von Schweiß und Straßendreck. Begriff, dass sie in die Falle gegangen war. Hier kam sie nicht mehr weg. Er brauchte nur zu ihr zu kommen, den Revolver an ihren Hinterkopf zu setzen und abzudrücken.
    Vorsichtig lugte sie an den Schubladen vorbei, konnte aber nichts sehen außer Eis und Lagerhallen, die in gelbes Scheinwerfergold getaucht waren.
    Ich muss warten, dachte sie. Ich muss herausfinden, wo er ist.
    Dann erst kann ich versuchen abzuhauen.
    Nach ein paar Minuten taten ihr die Kniekehlen weh. Ober- und Unterschenkel wurden taub, die Fußgelenke brannten, besonders das linke. Sie musste es sich bei ihrem Sturz verstaucht haben.
    Blut tropfte aus einer Wunde an der Stirn auf den Kai.
    Dann sah sie ihn. Er stand an der Kaikante, drei Meter von ihr entfernt, sie sah sein markantes Profil im Dunkeln vor dem gelben Lichtschein. Der Wind trug sein Flüstern zu ihr.
    »Aida.«
    Sie krümmte sich zusammen und schloss fest die Augen, machte sich klein, zu einem unsichtbaren Tier.
    »Aida, ich weiß, dass du hier bist.«
    Sie atmete mit offenem Mund und wartete. Der Wind war auf seiner Seite, machte seine Schritte lautlos. Als sie das nächste Mal aufschaute, ging er auf der anderen Seite der breiten Straße am Zaun entlang, die Waffe diskret unter der Jacke in Bereitschaft.
    Sie atmete schneller, in unregelmäßigen Schüben, ihr wurde schwindlig. Als er um die Ecke und in das blaue Lagerhaus hineinglitt, stand sie auf, sprang auf den Asphalt hinunter und lief.
    Ihre Füße donnerten, verräterischer Wind, die Tasche schlug gegen den Rücken, sie hatte Haare in den Augen.
    Sie hörte den Schuss nicht, spürte nur, wie die Kugel an ihrem Kopf vorbeipfiff, und begann Zickzack zu laufen, schlug abrupte, willkürliche Haken. Ein neues Pfeifen, ein neuer Haken.
    Plötzlich endete das Land, und die rasende Ostsee lag vor ihr.
    Wellen wie Segel, scharf wie Glas. Sie zögerte nur einen Moment.
    Der Mann trat an die Kaikante, von der die Frau gesprungen war, und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher