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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung
Autoren: Kimberley Wilkins
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irgendwo in der Welt ihm daraufhin eine Stelle anbieten würde. Granny hielt das für Quatsch. Ma sagte nichts dazu.
    Pa bemerkte ihren Blick und schaute verwirrt hoch. »Beattie?«
    »Liebst du mich, Pa?« Woher waren diese Worte gekommen? Das hatte sie nicht beabsichtigt.
    »Nun … ich …«, er nahm errötend die Brille ab und rieb sie energisch an seinem Hemd. »Ja, Beattie.«
    »Was ich auch tue? Wirst du mich immer lieben?« Ihr Herz raste, getrieben von der primitiven Angst, er könne ihre Gedanken lesen.
    »Wie ein Vater es tun sollte.«
    Sie stand auf und wollte schon sein Handgelenk berühren, überlegte es sich aber anders. »Ich bin nicht müde. Es geht mir gut«, log sie.
    Er blickte nicht auf. »Braves Mädchen. Ich muss arbeiten. Das Buch schreibt sich nicht von selbst.«
    Das Klappern der Schreibmaschine folgte ihr ins Schlafzimmer, wo sie die Schuhe anzog. Ma schnarchte leise, und Beattie freute sich, dass ihr Gesicht so friedlich wirkte. Ma sah seit langem immer nur müde und besorgt aus. An der Wand hing ein Schnittmuster für ein Kleid, an dem Beattie gearbeitet hatte. Das braune Papier rollte sich schon ein, denn sie hatte nichts mehr daran getan, seit sie von der Schwangerschaft wusste. Wozu ein Kleid nähen, das ihr bald ohnehin nicht mehr passen würde?
    Beattie setzte sich auf die Bettkante und drückte den Unterarm auf den Bauch. Welche Geheimnisse entfalteten sich in ihrem Inneren? Was für ein seltsames neues Leben wuchs dort heran? Bei dem Gedanken wurde ihr schwindlig vor Angst. Sie zog die Augenbrauen zusammen und wollte ihren Körper zwingen, das Kind herauszustoßen. Doch es passierte nicht. Es passierte nie.

[home]
    Zwei
    D ie Wochen vergingen, und das Ding krallte sich hartnäckig in ihrem Inneren fest. Sie verspürte Krämpfe, doch es war nur die Angst, die sie durchzuckte. Ihre Hüfthalter wurden enger, und weil sie immer schlank, beinahe knochig gewesen war, wurde eine erste leichte Schwellung sichtbar. Zum Glück trug sie lose Kleider und einen gewickelten Mantel, zum Glück liebte Henry sie vorzugsweise im Dunkeln, und zum Glück besaß sie genügend Geschick, um die Nähte ihrer Kleider auszulassen. Bald, ganz bald, würde die Blutung kommen, so wie sie es sich hundert oder tausend Mal vorgestellt hatte. Dann wäre der Alptraum vorbei, und das Leben könnte ganz normal weitergehen.
    Es fiel ihr zunehmend schwerer, morgens aufzustehen, und an einem kühlen Aprilmorgen blieb sie in der grauen Dämmerung liegen, bis ihre Mutter sie sanft weckte.
    »Beattie. Beattie. Du kommst zu spät zur Arbeit.«
    Sie zwang sich, die Augen zu öffnen.
    »Es tut mir leid«, sagte Ma. »Aber ich möchte nicht, dass deine Chefin wütend wird. Es sind schwere Zeiten. Du darfst deine Stelle nicht verlieren.«
    »Danke, Ma.« Sie schlug die Decke zurück und rieb sich die Augen.
    Ma hustete laut. Es schien sehr lange zu dauern, bis sie den Hustenanfall unter Kontrolle hatte. Unterdessen zog sich Beattie rasch an.
    »Dein Husten klingt nicht gut.«
    »Ach, das wird schon.«
    »Das sagst du nun schon seit einer Woche. Vielleicht solltest du zum Arzt gehen.«
    Ma sah sie traurig an. Ihre Augenlider hingen herab, als trügen sie die ganze Last ihrer Sorgen. »Kind, wir können uns keinen Arzt leisten und auch keinen Tag ohne Arbeit. Ich bin bald wieder auf der Höhe.«
    Beattie behielt sie im Auge, als sie in den Wohnbereich ging, sich die Haare kämmte und sich vor einem kleinen, angelaufenen Spiegel, der auf einem Stapel Koffer stand, schminkte. Merkte Pa denn nicht, was Ma durchmachte? Dachte er nicht daran, sich eine ehrliche Arbeit zu besorgen? Nein, natürlich merkte er es nicht. Ma hatte ihn wegen seines brillanten Verstandes geheiratet, und nun war sie an ihn gekettet.
     
    Camilles Modesalon, in dem Beattie vier Tage in der Woche arbeitete, gehörte Antonia Hanway, der Schwester des berühmten James Hanway, der in der Bath Lane eine Zuschneiderei besaß. Sie hoffte insgeheim, dass sie bei Antonia einen guten Eindruck hinterlassen würde und dadurch vielleicht eines Tages bei James arbeiten könnte: als Näherin oder Zuschneiderin, vielleicht sogar als Modeschöpferin. Sie trug immer einige zusammengefaltete Zeichnungen in der Handtasche, sollte er jemals in den Modesalon kommen. Doch das tat er nie.
    Sie betrat gähnend das Geschäft, was ihr einen strengen Blick von Antonia eintrug. Antonia war ein schwieriger Mensch, obwohl es vermutlich keine böse Absicht war. Die Kundinnen mussten
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