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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung
Autoren: Kimberley Wilkins
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doch als sie vor der Praxis ankam, waren ihre Schuhe durchweicht. Sie war nicht in der Lage, die Tür aufzudrücken. Es gab keine Markise, und der Regen prasselte gleichgültig auf sie nieder, als wäre sie nicht wichtiger als die Müllkisten, die auf der anderen Seite der engen Gasse standen.
    In diesem Augenblick kam sie sich vollkommen wertlos vor.
    Tränen stiegen ihr in die Augen, und zum ersten Mal, seit sie von der Schwangerschaft wusste, erlaubte sie sich zu weinen. Um den Verlust ihrer Unschuld, ihres Stolzes, der letzten Selbstachtung, die ihr nach dem Abstieg ihrer Familie geblieben war. Doch sie weinte auch um das Kind, das nicht darum gebeten hatte, gezeugt zu werden, und das niemals die feuchte Luft von Glasgow atmen, die Berührung seiner Mutter spüren oder die sturmgrauen Augen seines Vaters sehen würde. Sie weinte in ihre Hände, während der Regen auf sie niederprasselte. Dann, wie von Zauberhand, hörte er auf.
    »Alles in Ordnung, Mädchen?«
    Sie blickte auf. Um sie herum regnete es noch immer, doch neben ihr stand ein großer, breitschultriger Herr, der einen riesigen schwarzen Schirm über sie hielt.
    Beattie fasste sich und wischte die Tränen ab. »Vielen Dank, Sie sind sehr freundlich. Ich … ich muss jetzt nach Hause.«
    »Wollen Sie zum Arzt?« Er deutete auf die Praxistür.
    Sie schaute von der Tür zu dem Herrn und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht genug Geld.«
    »Ach, das wird schon. Kommen Sie herein. Ich kann Sie doch nicht im Regen stehenlassen.« Er holte einen Schlüsselbund heraus, öffnete die Tür und schob sie hinein. Erst jetzt wurde ihr klar, dass dieser Herr Dr. Mackenzie war. Er stellte seinen Schirm in einen Ständer neben der Tür und bat sie, im leeren Wartezimmer Platz zu nehmen. Der Empfang war verlassen. Er holte ihr ein kratziges weißes Handtuch.
    »Normalerweise habe ich am Donnerstagnachmittag keine Sprechstunde. Sie haben Glück gehabt.«
    Beattie rieb sich die Haare trocken. Im Zimmer roch es stark nach Zitronenpolitur und Salbe.
    »Kommen Sie mit.« Er führte sie in ein Untersuchungszimmer mit einer schmalen Liege. An der Decke hing eine weiße Lampe von einer Kette. Er setzte sich an den Schreibtisch, doch sie blieb verlegen vor ihm stehen wie ein Schulmädchen.
    »Nur zu, Mädchen, was ist denn los?«
    »Ich bin schwanger, und …« Ihr Gesicht wurde rot und heiß, während sie immer noch am ganzen Körper zitterte. »Ich glaube, ich verliere das Baby. Ich habe furchtbare Schmerzen …«
    Er runzelte nicht die Stirn und zeigte auch sonst keine Missbilligung, sondern stand auf und half ihr auf die Liege. »Lassen Sie mich sehen.« Er strich das feuchte Kleid über ihrem Bauch glatt und fuhr mit den Händen fest darüber. Sie beobachtete ihn mit angehaltenem Atem. Er hatte große Poren auf der Nase, und auf seinen Wangen wuchsen graue Haare.
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht – ich muss Ihr Kleid beiseiteschieben.«
    Sie nickte und schloss die Augen. Dann spürte sie seine kühlen Hände auf der nackten Haut. Er rollte ihren Hüfthalter herunter, drückte und tastete. Mit geschickten Händen bewegte er sich tiefer an Stellen, die bislang nur Henry berührt hatte. Doch bei ihm fühlte es sich anders an. Nicht heiß und wild, sondern kalt und steril.
    »Sie bluten nicht. Haben Sie vorhin geblutet?«
    »Nein.«
    »Wie alt sind Sie?«
    »Einundzwanzig«, log sie.
    »Ist der Schmerz ähnlich wie die Krämpfe, die Sie bei Ihrer monatlichen Regel haben?«
    Beattie wand sich vor Scham, weil sie mit einem Mann über so etwas sprechen sollte. »Nein, weiter unten, auf der linken Seite. Ich glaube …« Vor lauter Scham und Angst war es ihr gar nicht aufgefallen. »Ich glaube, sie haben aufgehört.«
    Er nestelte an ihrer Kleidung, und sie merkte, dass sie wieder bedeckt war. Sie öffnete die Augen und setzte sich hin. Dr. Mackenzie hatte am Schreibtisch Platz genommen.
    »In dieser Phase der Schwangerschaft ist ein solcher Schmerz recht häufig. Ihr Körper bereitet sich auf die Geburt vor. Die Bänder in Ihrem Becken dehnen sich. Da Sie sehr jung sind, ist es bei Ihnen etwas stärker. Vermutlich sind Sie gerade erst ausgewachsen.«
    Geburt? Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Vor ihren Augen verschwamm alles.
    »Also brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Dem Baby geht es gut.«
    Die Unausweichlichkeit ihrer Situation traf sie wie ein Schlag. »Nein!«, platzte es aus ihr heraus. Wieder musste sie mit den Tränen kämpfen.
    Der Arzt zog die
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