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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung
Autoren: Kimberley Wilkins
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würde ihr helfen.
    »Nun denn«, sagte Henry und ergriff sanft ihr Handgelenk. Er stieß die Tür zum Hinterzimmer auf, doch ein anderes, halb bekleidetes Paar vergnügte sich schon auf der Liege. Leise fluchend schloss er die Tür.
    »Draußen.« Er ließ sie nicht los.
    Sie gingen durch die Menge und die Treppe hinunter. Sein fester Händedruck war beruhigend. Ein friedliches Gefühl, eine Art Akzeptanz breitete sich auf einmal in ihr aus. Es war fast, als träumte sie. Die kalte Nachtluft war wie ein Schock, sie hatte ihren Mantel vergessen. Es roch nach Regen und den Abgasen der Busse auf der Douglas Street.
    »Worum geht es denn?« Er schaute mit seinem ruhigen grauen Blick auf sie hinunter, und sie genoss den Moment. Sie liebte ihn wahnsinnig; die Liebe würde alle Probleme lösen. Dann kam eine frische Brise auf und erinnerte sie an ihre nackten Arme und das Kind in ihrem Bauch.
    »Henry, ich bin schwanger.«
    Er erstarrte zur Statue. Selbst im Dunkeln sah sie, wie sich seine Pupillen zusammenzogen. Zum ersten Mal, seit sie ihm begegnet war, wirkte er unsicher. Eine Sekunde verging, dann noch eine und noch eine, und ihre traumwandlerische Sicherheit verschwand. Er bewegte sich nicht, er sprach nicht. Tränen brannten in ihren Augen, dann flossen sie warm über ihre Wangen.
    »Oh, Beattie«, sagte er so sanft und zärtlich, dass es ihr Angst machte.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid.« Als wäre es nur ihre Schuld, als wäre es ihr Fehler gewesen, dass sie schwanger geworden war. Als hätte er selbst überhaupt nichts damit zu tun.
    »Nein, nein, mir tut es leid. Ich kann nicht …« Er ließ den Kopf hängen und kniff sich in den Nasenrücken. Dann fasste er sich und sah ihr in die Augen. »Mein Liebling, ich bin verheiratet. Das weißt du.«
    Das Blut in ihren Adern wurde kalt. »Aber … was ist mit mir?«
    »Molly ist meine Frau. So einfach ist es nicht …«
    »Oh, Gott. Oh, Gott.« Beattie wandte sich schwankend ab, ihr Instinkt trieb sie zur Flucht.
    Henry aber hielt sie fest, zog sie an sich und bedeckte ihr tränenüberströmtes Gesicht mit Küssen. »Ich liebe dich, ich liebe dich. Aber es ist die Wahrheit: Molly wird sich niemals scheiden lassen.«
    »Was soll ich tun?«, schluchzte Beattie. »Ich habe schon meine Stelle verloren. Ich kann mich nicht um mich selbst kümmern, geschweige denn um ein Baby.«
    »Ich helfe dir, wo ich kann. Du musst ruhig bleiben und leise sprechen. Sei ganz ruhig. Sag mal, weiß sonst noch jemand davon?«
    »Cora«, gestand sie.
    »Hat sie es Teddy erzählt?«
    Beattie schüttelte den Kopf.
    Henry holte tief Luft. »Wir machen es so. Wir gehen jetzt nach oben und holen deinen Mantel. Wir sagen allen, dass du dich nicht wohl fühlst und nach Hause gehst. Dann musst du dich eine Weile vom Club fernhalten.«
    »Aber …«
    »Ich brauche ein bisschen Zeit, um etwas zu organisieren. Du vertraust mir doch, oder?«
    Eine gewaltige Leere tat sich in ihr auf. Sie vertraute ihm
nicht.
Natürlich nicht. Deshalb hatte sie auch so lange gezögert, es ihm zu sagen. Das wurde ihr jetzt qualvoll bewusst.
    »Wirst du auf mich hören?«
    Was blieb ihr anderes übrig? Sie nickte, brachte aber kein Ja über die Lippen.
     
    Zwei Wochen vergingen, in denen sie nichts von Henry hörte. Jeden Tag versank sie tiefer in Hoffnungslosigkeit. Jeden Morgen zog sie sich an und verließ die Wohnung, damit ihre Eltern nichts merkten. Natürlich würden sie es irgendwann herausfinden, vielleicht wenn ihre Mutter in ihre Handtasche schaute und kein Geld darin fand. Sie lief jeden Tag so lange umher, bis ihre Füße geschwollen waren, und landete immer wieder im Glasgow Green Park. Überall entfaltete sich neues Leben. Die festen grünen Schösslinge der Birken und Linden, die Wildblumen, die ihre ganze Farbenpracht an den Ufern des Clyde zur Schau stellten, die stolzen Gänse mit ihren unbeholfenen Küken. Und auch in ihr wuchs Leben. Das Kind zwickte sanft in ihren Bauch, der unübersehbar runder wurde.
    Doch sie sah nicht nur neues Leben, sondern auch andere Dinge: Dinge, die sie quälten und verfolgten. Zerlumpte Frauen ohne Obdach, schmutzige Kinder, die um Münzen oder Essen bettelten, eine schäbige Ansammlung alter Decken in einer Gasse, die auf ihren Bewohner wartete. Früher hatte sie in ihrer Phantasie von Kleidern und großem Erfolg geträumt, heute gaukelte sie ihr Bilder dieser Gassen vor. Sie sah sich selbst mit ihrem Kind, sah den Winter, der sich mit kalten
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