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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung
Autoren: Kimberley Wilkins
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weggelaufen wäre.
    Aber das tat sie nicht. Denn es ging nicht mehr nur um sie selbst. Das Kind, dessen erste sanfte Bewegungen sie an diesem Morgen in ihrem Bauch gespürt hatte, brauchte einen Vater.
    Die erste Treppe war am schwersten. Dann roch sie den vertrauten Zigarrenrauch, hörte das vertraute Gelächter – lauter als sonst – und strebte ihm entgegen. Ihr Herz schien zu groß für ihre Brust. Sie würde es Henry sagen, ganz offen mit ihm sein. Danach lag es nicht mehr in ihrer Hand.
    Mit einer Party hatte sie allerdings nicht gerechnet.
    Der Club platzte aus allen Nähten. Girlanden waren gespannt, manche davon gefährlich nahe am Kamin. Der Kartentisch war beiseitegeräumt worden und hatte einem langen Esstisch Platz gemacht, auf dem eine opulente Fülle an Essen aufgebaut war. Rasch schaute sie sich nach Henry um. Sie wollte mit niemand anderem sprechen. Ihre Lippen waren schon bereit für den einen Satz: »Henry, ich bin schwanger.« Aber er war nirgendwo zu sehen.
    »Komm rein, komm rein, Beattie!« Es war Teddy Wilder in seiner weiten Hose und dem bunten Strickpullover. Seine roten Wangen glänzten. »Das ist eine Abschiedsparty. Wir brauchen dich sofort hinter der Theke.«
    »Abschied?« Ihr Herz machte einen Sprung. Henry ging weg. Er lief mit dem irischen Wolfshund davon. »Wessen Abschied?«
    »Keine Sorge, niemand, den du magst«, erwiderte Teddy lachend. »Mein Bruder Billy. Er macht sich davon. Fährt übermorgen mit einem Schiff nach Australien.«
    Dann war Cora da, griff mit ihrer kühlen weißen Hand nach Beattie und zog sie zur Theke, wobei sie die laute Jazzmusik aus dem Grammophon überschrie. »Hast du gehört? Billy geht weg!« Sie konnte ihre Aufregung kaum bezähmen. Cora verachtete Billy. Genau wie die meisten anderen Leute. Er war unberechenbar, grob und eitel. Angeblich trieb er sich mit einer Straßengang herum, rauchte Opium und missbrauchte Prostituierte. Beattie wusste nicht, wie viel Wahrheit in diesen Geschichten steckte.
    Teddy eilte davon und rief einem anderen Freund etwas zu, während sich Beattie an Cora klammerte. »Wo ist Henry? Ich muss mit ihm reden.«
    »Er ist noch nicht hier. Zigarette?«
    Beattie schüttelte den Kopf. Cora zündete sich eine an und hob das Kinn, damit ihr eleganter weißer Hals zur Geltung kam. »Gegen Billy wird ermittelt, er soll bei Proudmoore’s die Zahlen frisiert haben.«
    Beattie konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Henry war nicht da. Der Mut verließ sie; hoffentlich fand sie ihn wieder, wenn er kam. »Frisiert …?«
    »Aye, die Bücher gefälscht. Jetzt rennt er weg, bevor ihn die Polizei erwischt. Sein Vater hat ihm einen Job bei einem Freund in Tasmanien besorgt. Am Arsch der Welt. Da gehört er auch hin.« Sie schaute sich um, ob niemand sie belauschte. »Er war es, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Er hat es Teddy erzählt. Zweihundert Pfund in die eigene Tasche gewirtschaftet.«
    »Aber Henry hat nichts damit zu tun?« Billy war sein Vorgesetzter in der Buchhaltung der Schifffahrtsgesellschaft.
    Cora schüttelte energisch den Kopf. »Nein, dazu ist Henry nicht fähig. Aber Billy ist ein übler Kerl. Ich bin froh, wenn er weg ist.«
    Beattie zwang sich zu einem Lächeln. »Teddy wird ihn vermissen. Er wird einsam sein ohne ihn.«
    »Teddy geht es gut«, schnurrte Cora und hob anzüglich die Augenbrauen. »Ich leiste ihm Gesellschaft.«
    Beattie konnte ihr nicht in die Augen sehen. Warum war sie und nicht Cora schwanger geworden? Plötzlich konnte sie die Ungerechtigkeit nicht länger ertragen und wollte weg von Cora mit der modisch flachen Brust und dem flachen Bauch. Sie wandte sich ab, drängte sich mit gesenktem Kopf durch die Menge. Cora rief ihr etwas im Befehlston nach, da sie es nicht gewohnt war, von Beattie stehengelassen zu werden, doch diese beachtete sie nicht. Weder sie noch die anderen Stimmen, das Gelächter oder die wogende Menge.
    Dann erwischte er sie.
    »Beattie?«
    »Henry!« Sie klang halb ängstlich, halb erleichtert.
    »Was ist los? Du bist ganz blass.«
    »Ich …« Sie riss sich zusammen. »Ich muss mit dir reden. Jetzt.«
    »Du redest doch mit mir.«
    »Ich meine über etwas Wichtiges.« Sie schaute sich gehetzt um. »Wo wir allein sein können.«
    Er zog die Augenbrauen zusammen, ein vertrauter Ausdruck. Sie liebte sein ernsthaftes Gesicht und die intelligenten Augen. Sie liebte sie so sehr, dass es weh tat. Sie verspürte neue Hoffnung. Er würde wissen, was zu tun war. Er
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