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Alle lieben Merry

Alle lieben Merry

Titel: Alle lieben Merry
Autoren: Jennifer Greene
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1. KAPITEL
    N ormalerweise war Merry Olson durch nichts aus der Fassung zu bringen. Sie wurde deswegen ständig geneckt. Ein verbranntes Frühstück, nicht zu bändigendes Haar und ein platter Autoreifen am selben Morgen konnten ihre Stimmung nicht trüben – sie wäre trotzdem quietschvergnügt. Ihr Vater behauptete, sie könnte mitten in einem Tornado den Silberstreif am Horizont entdecken. Aber, Himmel, ein Blick auf das Haus, und ihr rutschte das Herz vor Schreck in die Hose.
    Die Fahrt von Minnesota nach Oakburg in Virginia war lang und anstrengend gewesen, besonders, da sie allein gefahren war. Sie hatte also erwartet, bei ihrer Ankunft erschöpft zu sein. Nur damit, einen derartigen Kulturschock zu erleiden, als wäre sie auf einem völlig fremden Planeten gelandet, hatte sie nicht gerechnet.
    Sie holte tief Luft, kletterte aus ihrem blauen Mini Cooper, auf dem sich eine Kruste aus Schneematsch und Salz gebildet hatte, und griff nach ihrem Handy. Mit ihren neunundzwanzig Jahren war sie zwar nicht mehr durch eine psychologische Nabelschnur mit ihrem Vater verbunden, aber sie wusste zu gut, dass er sich schreckliche Sorgen machte, solange er nichts von ihr hörte. Sie war auf die gleiche Weise um ihn besorgt, wenn er allein auf Reisen war.
    Während sie wartete, dass ihr Dad abhob, betrachtete sie ihr Auto. Merry hatte nie Zweifel daran gehabt, dass ihr Mini einfach alles bewältigen konnte – das Auto war viel zuverlässiger als sie selbst. Aber im Moment war der Kleine bis zum Dach vollbepackt mit all ihrem Hab und Gut und das Heck lag zweifellos ganz schön tief.
    Ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen, war eine ziemliche Herausforderung gewesen, aber nicht unmöglich. Seit Jahren wurde sie von Freunden und Verwandten mit dem Prädikat “flatterhaft” bedacht. Doch während sie es liebevollkritisch meinten, war Merry insgeheim stolz auf die Bezeichnung. Sie lebte ein ungebundenes und freies Leben. Dafür hatte sie sich bewusst entschieden, es war kein Zufall. Nie hatte sie einen Job angenommen, mit dem sie nicht jederzeit wieder aufhören konnte, nie hatte sie sich erlaubt, sich so sehr an einen Ort zu binden, dass sie ihn nicht wieder verlassen konnte. Sie hatte sich an nichts und niemanden für längere Zeit gebunden.
    Was die anderen Leute als flatterhaft bezeichneten, nannte sie Freiheit. Und vielleicht gab es einige persönliche Gründe, warum sie so freiheitsliebend war, aber darum ging es nicht. Es ging darum, dass sie – wie erst kürzlich notwendig – in der Lage war, ihr ganzes Leben von einem Tag auf den anderen zu ändern.
    Ihr Mini Cooper sah ein bisschen merkwürdig aus. Den Beifahrersitz teilten sich zwei Koffer, ein Kissen und ein Haufen Schuhe. Auf der Rückbank stand ein kleiner, bereits mit rosa Lämpchen und gleichfarbigen Schleifen dekorierter Weihnachtsbaum, neben dem sich Unmengen an Paketen, eingepackt in rosafarbenes, silbernes und goldenes Geschenkpapier, stapelten.
    In Anbetracht der Tatsache, dass es der zehnte Januar und somit Weihnachten längst vorbei war, mochte vor allem der Baum einem Fremden etwas bizarr erscheinen. Aber Merry hatte ihre Prioritäten, und sie hoffte inständig, dass dazu nie gehören würde, auf andere Leute normal zu wirken.
    “Dad?” Nach dem vierten Läuten meldete er sich endlich. “Ich bin heil und gesund angekommen. Eine wahnsinnig lange Fahrt, aber sonst problemlos …”
    Ein eisiger Schneeregen schlug ihr ins Gesicht, aber es störte sie nicht. Die frische Temperatur hatte nach den vielen Stunden im engen Auto eine belebende Wirkung. Außerdem hatte sie mehr als einen halben Meter Schnee in Minneapolis hinter sich gelassen, und wenn dies das Schlimmste war, was Virginia im Winter zu bieten hatte, würde das Leben hier ein Zuckerschlecken sein.
    Als ihr Blick jedoch wieder auf das Haus fiel, jagte es ihr erneut einen Schauer über den Rücken.
    “Nein, Dad, ich habe mich noch nicht mit dem Rechtsanwalt getroffen. Auch nicht mit dem Kind. Dafür war noch keine Zeit. Ich bin davon ausgegangen, in einem Stück durchzufahren, aber ich musste letzte Nacht anhalten und ein paar Stunden schlafen. Ich bin praktisch gerade erst um die Ecke gebogen und sehe mir eben das Haus an …”
    Offensichtlich gab es nicht nur dieses eine Haus. Es gab eine ganz Siedlung, bestehend aus kleinen, architektonisch extravaganten Villen mit schönen Vorgärten und Garagen für drei Autos. Die einzigen Fahrzeuge weit und breit waren BMWs, Volvos und
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